„Die Zeit ist mehr als nur eine Variable“
Was ist Zeit? Diese Frage lässt sich nicht nur unter Philosophen diskutieren, auch Physiker haben unterschiedliche Vorstellungen vom Charakter der Zeit: Während die Zeit in der Quantenmechanik immer im gleichen Takt voranschreitet, kann sie gemäß Albert Einsteins Relativitätstheorie mal schneller und mal langsamer vergehen. Um die beiden Theorien miteinander zu verbinden, entwickelte Martin Bojowald von der Pennsylvania State University gemeinsam mit seinen Kollegen ein theoretisches Modell, das die Zeit auf eine neue Art und Weise beschreibt. Wie sie dabei vorgegangen sind und ob sich ihre Vorhersagen auch experimentell überprüfen lassen, berichtet der theoretische Physiker im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Welche Rolle spielt Zeit in der Physik?
Martin Bojowald: Die Zeit ist eine der fundamentalen physikalischen Größen. Doch was wir genau unter Zeit verstehen, hängt von der jeweiligen Theorie ab, die wir betrachten: In der klassischen Mechanik von Isaac Newton ist die Zeit beispielsweise eine Variable, die im immer gleichen Takt voranschreitet. So stellen wir uns die Zeit meist auch in unserem Alltag vor. Doch Albert Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie gezeigt, dass sich der Takt der Zeit verändern kann: Je schneller sich ein Objekt bewegt und je stärker die Schwerkraft ist, der es ausgesetzt ist, desto langsamer vergeht die Zeit. Die Effekte der sogenannten Zeitdilatation sind in unserem Alltag allerdings so gering, dass wir sie nicht bemerken.
Kann man die Zeitdilatation trotzdem in Experimenten beobachten?
Ja, mithilfe von sehr präzisen Uhren – sogenannten Atomuhren – können Forscher den Effekt tatsächlich messen. Nimmt man eine Atomuhr mit an Bord eines Flugzeugs und vergleicht sie anschließend mit einer Atomuhr, die sich auf dem Erdboden befand, zeigt sich: Die Zeit ist für die beiden Uhren unterschiedlich vergangen, da sie sich mit einer unterschiedlichen Geschwindigkeit bewegt haben und sie außerdem einer unterschiedlich starken Schwerkraft ausgesetzt waren. Die Uhren verhalten sich genauso, wie es Einsteins Gleichungen vorhersagen. Deswegen wird auch in unserer modernen Technik, wie etwa bei der Positionsbestimmung mit GPS, die Zeitdilatation berücksichtigt.
Taucht die Zeitdilatation auch in anderen Theorien auf?
Neben der Allgemeinen Relativitätstheorie gibt es in der modernen Physik noch eine weitere fundamentale Theorie – die Quantenmechanik. Doch in dieser Theorie, die die Welt der kleinsten Teilchen beschreibt, nimmt die Zeit eine ganz andere Rolle ein: Sie schreitet – ähnlich wie in der klassischen Mechanik – stetig voran und wird nicht durch ihre Umgebung beeinflusst. Die beiden Theorien widersprechen sich also im Charakter der Zeit.
Was bedeutet dieser Widerspruch?
In den meisten Fällen spielt der Unterschied keine Rolle, denn die beiden Theorien beschreiben physikalische Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen: Wenn Physiker beispielsweise das Verhalten von Planeten oder ganzen Galaxien berechnen, nutzen sie die Allgemeine Relativitätstheorie. Im Gegensatz dazu sagt die Quantenmechanik voraus, wie sich die kleinsten Teilchen – etwa Elektronen – verhalten. Doch es gibt Bereiche, in denen starke Gravitationsfelder auf sehr kleinen Abständen auftreten, wie etwa im Inneren von Schwarzen Löchern. Um auch diese Bereiche korrekt zu beschreiben, versuchen theoretische Physiker, die Allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik zu verbinden. Doch welche Rolle nimmt die Zeit in einer solchen Theorie der sogenannten Quantengravitation ein?
Und mit dieser Frage beschäftigen Sie sich?
Genau, mithilfe eines theoretischen Modells haben wir die Zeit auf eine vollkommen neue Art und Weise beschrieben, die sowohl Aspekte der Quantenphysik als auch der Allgemeinen Relativitätstheorie berücksichtigt. In dieser Theorie wird die Zeit nicht mehr als eine Variable wie etwa in der klassischen Mechanik beschrieben, sondern als eine periodische Schwingung. Dieses Zeitfeld durchdringt das gesamte Universum und gibt an jedem Ort den Takt der Zeit an – wir sprechen daher von einer fundamentalen Zeit. Die Schwingung in unserem Modell kann man sich wie Pendel vorstellen, die an jedem Ort im Universum schwingen: Nachdem das Pendel einmal hin- und hergeschwungen ist, ist eine Zeiteinheit vergangen.
Aber wie vereinen Sie so Aspekte der beiden Theorien?
Zum einen unterliegt die Schwingung in unserem Modell – anders als eine normale Pendeluhr – den Gesetzen der Quantenphysik. Das führt zu kleinen, zufälligen Schwankungen – sogenannten Quantenfluktuationen – der sonst regelmäßigen Schwingung. Zum anderen kann die fundamentale Zeit, wie die Zeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie, mit ihrer Umgebung wechselwirken. So wird etwa der Takt von Atomuhren von der Schwingung der fundamentalen Zeit beeinflusst und auch die zufälligen Schwankungen der fundamentalen Zeit übertragen sich auf den Takt der Atomuhren. Dieser Effekt ließe sich theoretisch sogar messen. Die Auflösung der heutigen Atomuhren reicht dazu zwar noch nicht aus, mit immer präziseren Uhren wird dies eines Tages aber vielleicht möglich sein. Bis dahin suchen wir nach weiteren Vorhersagen unseres Modells, die sich in Experimenten überprüfen lassen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/die-zeit-ist-mehr-als-nur-eine-variable/