„Es könnte sich um völlig neuartige Teilchen handeln“
Dirk Eidemüller
Jahrelang haben Forscher im Gran-Sasso-Untergrundlabor mit dem hochempfindlichen Detektor XENON1T nach sogenannten WIMPs gesucht. Diese Teilchen sind die vielversprechendsten Kandidaten für Dunkle Materie. Der Name WIMP steht für „Weakly Interacting Massive Particles“, also schwach wechselwirkende massereiche Teilchen. Nach jahrelangen Messungen und aufwendigen Analysen haben die Forscher nun ein überraschendes Signal in den Daten identifiziert. Im Interview mit Welt der Physik spricht Manfred Lindner vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg über mögliche Ursachen für das bislang unerklärliche Signal.
Welt der Physik: Was war überraschend an dem Signal, das sie mit dem XENON1T detektiert haben?
Manfred Lindner: Im Wesentlichen messen wir mit XENON1T zwei Dinge: erstens angestoßene Xenon-Atomkerne und zweitens angestoßene Elektronen. Bislang haben wir aber noch keine WIMPs, die sich durch Stöße mit den Xenon-Atomkernen in unserem Experiment bemerkbar machen sollten, finden können. Im Juni dieses Jahres haben wir allerdings angestoßene Elektronen gemessen, die einen anderen Ursprung haben müssen.
Was für Prozesse kommen dafür infrage?
Es könnte sich einerseits um völlig neuartige Teilchen oder neue physikalische Gesetzmäßigkeiten handeln. Das wäre hochspannend und würde ganz neue Fragen in der Teilchenphysik aufwerfen. Andererseits könnte es sich aber auch einfach um eine bislang noch unverstandene, minimale Verunreinigung der Messapparatur handeln, die nun ein falsches Signal vortäuscht. Der XENON1T-Detektor war während der Messungen so hervorragend abgeschirmt, dass er der strahlungsärmste Ort im Universum war. Die extreme Reinheit wurde zwar mit sehr sensitiven Messverfahren laufend überprüft. Aber man muss auch sehen, dass wir mit diesem Apparat ein unglaublich empfindliches Experiment gebaut haben, das millionenfach sensitiver auf seltene Prozesse reagiert als frühere Experimente.
Was wären die plausibelsten Erklärungen, sollte es sich um neuartige Teilchen oder neue physikalische Gesetze handeln?
Es gibt bereits eine ganze Reihe von Untersuchungen zu diesem Signal. Über 150 Publikationen haben Theoretiker hierzu bereits eingereicht. Man kann die wichtigsten Ideen grob in drei Gruppen unterteilen. Erstens könnte das Signal von Neutrinos stammen, falls diese flüchtigen Elementarteilchen etwas andere Eigenschaften aufweisen, als wir heute annehmen. Neutrinos könnten etwa ein ungewöhnliches magnetisches Moment besitzen. Dann würden die vielen Neutrinos, die aus der Sonne kommen, einige Elektronen im Detektor anstoßen und ein solches Signal auslösen.
Was wäre die zweite Möglichkeit?
Es könnte auch sein, dass Dunkle Materie aus sehr leichten Teilchen besteht – sogenannten Axionen oder ähnlichen Teilchen. Die Theoretiker untersuchen diese Möglichkeit schon seit einigen Jahren intensiv. Falls es derartige Teilchen gäbe, sollten sie in großer Zahl in der Sonne entstehen. Im Prinzip könnten Axionen oder ähnliche Teilchen unser Signal auslösen. Allerdings gibt es hier noch einige offene Fragen. Denn diese Partikel müssten sehr spezifische Eigenschaften aufweisen, um nicht mit anderen Beobachtungen in Konflikt zu geraten.
Und die dritte Option?
Vielleicht handelt es sich auch um eine bislang unerwartete Art von Dunkler Materie. Wir suchen bislang vergeblich mit unserem Experiment nach WIMPs, die ähnlich schwer sein sollten wie die Xenonatome in unserem Detektor. Denn Stöße zwischen ähnlich schweren Partnern lassen sich leichter nachweisen. Wenn aber die WIMPs sehr viel leichter wären, würden sie möglicherweise nur die sehr viel leichteren Elektronen anstoßen.
Wie wollen Sie nun den Ursprung des Signals bestimmen?
Die Daten, die wir jetzt analysiert haben, stammen aus der letzten Messperiode von XENON1T, die bis 2018 gedauert hat. Mittlerweile ist der deutlich größere Detektor XENONnT aufgebaut und soll bald mit den Messungen beginnen. Er wird nochmals deutlich empfindlicher sein und uns dann bessere Hinweise geben, welchen Ursprung dieses Signal hat.
Wie hat sich der Aufbau des neuen Detektors gestaltet?
Aufgrund der Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie durfte sich immer nur eine bestimmte Anzahl von Leuten in den Laboren und unter Tage aufhalten. Das hat zu kniffligen Situationen geführt. Denn bestimmte Teile der Apparatur dürfen etwa nicht mit der Umgebungsluft in Berührung kommen. Schon nach einigen Sekunden wäre die Apparatur so stark mit Fremdatomen kontaminiert, dass die Empfindlichkeit des Experiments starke Einbußen erleiden würde. Wenn sich die ganze Arbeit beim Aufbau eines so komplexen Experiments nur auf wenige Schultern verteilen darf, muss man die einzelnen Arbeitsschritte sehr genau planen und vorbereiten. Aber dank des großen persönlichen Einsatzes aller Beteiligten sieht es so aus, als ob alles planmäßig fertig wird.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/dunkle-materie/es-koennte-sich-um-voellig-neuartige-teilchen-handeln/