„Die Ergebnisse sprechen gegen das Standardmodell“
Dirk Eidemüller
Zwerggalaxien besitzen viel weniger Masse – und viel weniger Sterne – als die großen elliptischen Galaxien oder Spiralgalaxien. Ein Beispiel dafür sind die Große und die Kleine Magellansche Wolke, die um das Milchstraßensystem kreisen. Auch andere große Galaxien haben solche Trabanten, etwa Centaurus A. Oliver Müller von der Universität Basel und seine Kollegen haben anhand von Aufnahmen des Weltraumteleskops Hubble untersucht, wie sich Satellitengalaxien um dieses rund 13 Millionen Lichtjahre entfernte System bewegen. Die Ergebnisse scheinen dem kosmologischen Standardmodell zu widersprechen, wie das Team nun in der Zeitschrift „Science“ berichtet. Im Interview mit Welt der Physik erklärt Oliver Müller, ob es sich hier um einen außergewöhnlichen Zufall handelt oder vielleicht sogar um einen Hinweis auf neue physikalische Gesetzmäßigkeiten.
Welt der Physik: Sie haben eine unerwartete Anordnung von Satellitengalaxien rund um die nahegelegene Galaxie Centaurus A gefunden. Wie sind diese kleinen Galaxien verteilt?
Oliver Müller: Die Satellitengalaxien sind in einer dünnen Ebene verteilt, so wie die Planeten um die Sonne. Und wie auch bei den Planeten scheint es, dass sich die Satellitengalaxien innerhalb dieser Ebene in derselben Bewegungsrichtung drehen. Die Anordnung selbst wurde von Brent Tully und Kollegen bereits im Jahr 2015 gefunden. Wir haben nun die Bewegung analysiert.
Laut dem Standardmodell der Kosmologie würde man eigentlich eine andere Verteilung der Satellitengalaxien erwarten. Können Sie kurz erläutern, was das Standardmodell ist?
Das Standardmodell der Kosmologie geht von einem Universum aus, in dem die Gravitationsgesetze von Einstein – also die Allgemeine Relativitätstheorie – Gültigkeit haben. Dabei besteht das Universum aus 70 Prozent Dunkler Energie, 25 Prozent Dunkler Materie und nur 5 Prozent des Universums bestehen aus sichtbarer Materie, der sogenannten baryonischen Materie. Das sind alle chemischen Elemente, Sterne, Gas – einfach alles, was wir aus dem Alltag kennen. Mithilfe von Supercomputern kann man anhand dieser Ingredienzen die Entwicklung des Universums berechnen.
Welche Ergebnisse liefern solche Computersimulationen – insbesondere für Satellitengalaxien?
Man beobachtet, wie die Dunkle Materie sich verdichtet und hilft, Galaxien zu formen. So entstehen große Materieansammlungen, die etwa der Milchstraße entsprechen und von Hunderten sogenannter Sub-Halos umgeben sind, den Zwerggalaxien. Wie man in diesen Simulationen sieht, bewegen sich die Zwerggalaxien recht chaotisch um die Zentralmasse und sind zufällig verteilt. Deshalb ist die Erwartung, dass Satellitengalaxien sich eher wie Bienen um einen Bienenstock verhalten.
In der Milchstraße hat man hingegen beobachtet, dass die Satellitengalaxien gehäuft in einer Ebene auftreten. Wie sicher sind diese Erkenntnisse?
In der Milchstraße ist dies gewiss. Alle zwölf altbekannten Zwerggalaxien liegen in einer Ebene, die senkrecht zur Scheibe der Milchstraße steht. Neu entdeckte Zwerggalaxien – man kennt heute etwa 25 Zwerggalaxien – folgen so ziemlich alle dieser Verteilung. Da man die Bewegung der Sterne über Jahre vermessen hat, weiß man, dass sich diese Bewegung innerhalb einer Ebene abspielt, was wir als Korotation bezeichnen.
Wie sieht es bei unserer Nachbargalaxie Andromeda aus?
Andromeda hat mehr als dreißig Zwerggalaxien und etwa die Hälfte liegt in einer Ebene. Man kann die Bewegungen dieser Galaxien nur entlang unserer Sichtlinie messen, hat aber festgestellt, dass sich die Galaxien auf der einen Seite von Andromeda zu uns bewegen und auf der anderen Seite von uns weg. Dies erwartet man, wenn auch dort eine Korotation stattfindet. Genau das Gleiche haben wir jetzt bei Centaurus A gefunden. Im Norden bewegen sich die Galaxien auf uns zu, im Süden von uns weg – relativ zur Zentralmasse gesehen.
Haben Sie auch andere Galaxien untersucht?
Die Schwierigkeit bei der Untersuchung von anderen Galaxien ist, dass die Messunsicherheiten mit zunehmender Distanz zu groß werden. Wenn der Fehler bei der Ortsbestimmung der Zwerggalaxien größer ist als die physikalische Länge der Ebene, kann man keine Ebene mehr sehen – auch wenn eine vorhanden wäre. Bei Centaurus A hatten wir das große Glück, dass die Ebene mit der Kante zu unserer Sichtlinie steht. Es könnte also sein, dass die meisten Galaxiengruppen solche Ebenen haben, wir dies aber nicht feststellen können.
Sollten sich ihre Ergebnisse bestätigen, spricht das gegen die herkömmlichen Modelle zur Galaxienentstehung gemäß dem kosmologischen Standardmodell?
Ja, die Ergebnisse sprechen tatsächlich gegen das Standardmodell. Laut diesem Modell erwartet man, dass nur etwa eine von tausend Galaxien eine solche Struktur aufweist. Denn nur eines von tausend Galaxiensystemen sollte sich statistisch gesehen zufällig so anordnen. Wir kennen aber jetzt schon drei Galaxiensysteme, in denen wir dieses Phänomen beobachten. Die Wahrscheinlichkeit, diese drei Galaxien so vorzufinden, liegt bei 1 zu 1 000 000 000. Und das deutet schon darauf hin, dass hier etwas Seltsames vorgeht.
Gäbe es denn Alternativen zum gängigen Modell?
Eine interessante Alternativtheorie wäre, dass Zwerggalaxien nicht uralt sind, sondern sich aus Gezeitenarmen bilden. Diese Brücken aus Gas und Sternen können entstehen, wenn zwei große Galaxien miteinander in Wechselwirkung treten. Gezeitenarme liegen in der Ebene der Interaktion und haben durch die Drehimpulserhaltung den gleichen Drehsinn. Wenn sie unter ihrer eigenen Gravitation kollabieren, könnten sie Zwerggalaxien formen. Gezeitenarme hat man viele beobachtet und auch simuliert. Sie sollten eigentlich wenig Dunkle Materie enthalten, doch man hat den Effekt von Dunkler Materie in den Zwerggalaxien der Milchstraße gemessen. Wie man dies in Einklang bringt, ist ein heiß diskutiertes Thema. Eine andere Möglichkeit wäre, die Gravitation zu modifizieren, wie es bei der sogenannten MOND-Theorie – für Modified Newton Dynamics – gemacht wird.
Wäre es auch möglich, dass man die Entwicklung von Galaxien innerhalb des kosmologischen Standardmodells einfach noch nicht gut genug verstanden hat?
Für die Ebenenstruktur von Galaxiengruppen – also größeren Galaxien mitsamt ihren Zwerggalaxien – spielt die Entwicklung einzelner Galaxien keine große Rolle. Das heißt aber: Auch wenn wir noch bessere Modelle zur Entwicklung einzelner Galaxien finden, werden wir damit das Problem mit der Verteilung von Zwerggalaxien nicht lösen. Auf der Skala der Galaxiengruppen haben wir die Simulationen im Griff, trotzdem gibt es einen Widerspruch zwischen Beobachtung und Erwartung. Es scheint sehr schwierig, das mit dem Standardmodell in Einklang zu bringen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2018/die-ergebnisse-sprechen-gegen-das-standardmodell/