Materiescheibe in Schieflage

Ein Ring aus Gas und Staub umgibt ein junges Doppelsternsystem – liegt aber nicht wie üblich in der Bahnebene der beiden Sterne, sondern senkrecht dazu.

Rainer Kayser

Doppelstern mit einer Gas- und Staubscheibe senkrecht zur Bahnebene

M. Garlick/University of Warwick

Es ist eine ungewöhnliche Kombination: Ein Ring aus Gas und Staub umgibt ein junges Doppelsternsystem – liegt aber nicht wie üblich in der Bahnebene der beiden Sterne, sondern senkrecht dazu. Die Theorie der Himmelsmechanik sagt die Existenz solcher polarer Materiescheiben seit Langem voraus. Jetzt gelang es einem internationalen Forscherteam erstmals, dieses Phänomen tatsächlich nachzuweisen. Etwa die Hälfte aller Planeten in Doppelsternsystemen könnte sich auf polaren Umlaufbahnen bewegen, folgern die Wissenschaftler im Fachblatt „Nature Astronomy“.

„Nahezu alle jungen Sterne sind von dichten Scheiben aus Gas und Staub umgeben“, erläutert Grant Kennedy von der University of Warwick in Großbritannien. In diesen Scheiben entstehen häufig Planeten. „Einige dieser Planeten kreisen nicht in der Äquatorebene ihres Sterns, sondern mehr oder weniger stark dagegen geneigt. Wir haben uns daher gefragt, ob es so etwas auch bei Doppelsternen gibt.“ Auf der Suche nach einer Antwort blickten Kennedy und seine Kollegen mit den insgesamt 66 Antennen der Radioteleskopanlage ALMA – dem Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array in Chile – ins Weltall. Fündig wurden die Astronomen in dem 146 Lichtjahre von uns entfernten Doppelsternsystem HD 98800.

Die Messungen der Forscher zeigen auch, dass sich der Staub in der um 90 Grad geneigten Materiescheibe zu immer größeren Körnchen verdichtet. „Auch in polaren protoplanetaren Scheiben läuft also dieser erste Schritt zur Entstehung von Planeten ab“, so das Team. Demnach dürfte es auch in polaren Umlaufbahnen um Doppelsterne durchaus Planeten geben, folgern die Astronomen um Kennedy. Sie gehen sogar davon aus, dass etwa die Hälfte aller Planetensysteme um Doppelsterne eine solche polare Konfiguration aufweist – eine ausreichende Motivation, um künftig intensiver nach derartigen Systemen zu suchen.

In den vergangenen Jahren hatten theoretische Arbeiten gezeigt, dass in einem Doppelsternsystem mit einer protoplanetaren Scheibe auf Dauer nur zwei stabile Zustände möglich sind: Entweder die beiden Sterne und die Scheibe bewegen sich koplanar, also in einer gemeinsamen Ebene – oder die Scheibe kippt vollständig in eine Position senkrecht zur Bahnebene der Sterne. Inzwischen sind zahlreiche Doppelsterne mit koplanaren Scheiben bekannt. Ob polare Zustände in der Natur vorkommen, war bislang unklar.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2019/materiescheibe-in-schieflage/