Milchstraße erzeugt wenige hochenergetische Neutrinos

Neue Forschungsergebnisse des IceCube Neutrino Observatory zeigen: Was Neutrinos angeht, unterscheidet sich unsere Galaxie offenbar von anderen.

Anne-Dorette Ziems

Ringförmige, dreidimensional dargestellte Temperaturkarte in Blautönen, in deren Mittelpunkt die Erde ist. Im Hintergrund eine zur Mitte hin heller leuchtende Galaxie.

IceCube Collaboration/Science Communication Lab for CRC 1491

Neutrinos sind ungeladene Elementarteilchen und interagieren so gut wie nie mit Materie. Wenn wir unsere Hand aufhalten, fliegen pro Sekunde 10 Billionen Neutrinos hindurch – und im Durchschnitt reagiert weniger als eines davon mit den Atomen in unserer Hand. Allerdings gibt es in unserer Galaxie sehr viele von ihnen – zumindest solche mit eher niedriger Energie. Eine Forschungsgruppe hat untersucht, wie viele hochenergetische Neutrinos in unserer Milchstraße im Vergleich zu anderen Galaxien entstehen. Im Fachmagazin „Nature Astronomy“ berichten die Forschenden, dass es unterdurchschnittlich viele sind.

Neutrinos entstehen auf zwei verschiedenen Wegen und haben unterschiedlich hohe Energien. Viele haben ihren Ursprung in Reaktionen zwischen Atomkernen: Zum Beispiel beim radioaktiven Zerfall, aber auch in der Sonne oder anderen Sternen und bei Phänomenen wie Supernovae. Neutrinos mit hoher Energie hingegen entstehen, wenn kosmische Strahlung – also hochenergetische Protonen oder schwerere Atomkerne – mit Materie im interstellaren Medium interagiert. Diese Neutrinos sind hochenergetisch: Fachleute beziffern ihre Energien auf mehrere Billionen Elektronenvolt – einige Milliarden Mal höher als die von Sonnenneutrinos.

Ein Forschungsgebäude mit Turm und Gittertreppen auf verschneitem Boden, vor einem Sternenhimmel mit Milchstraße und Polarlichtern.

IceCube Observatorium

Ke Fang und ihr Team von der University of Wisconsin-Madison haben nun untersucht, wie viele solcher hochenergetischen Neutrinos in unserer Milchstraße entstehen. Dazu nutzten sie einen gewaltigen Neutrinodetektor in der Antarktis: das IceCube Neutrino Observatory. In einem Volumen von einem Kubikkilometer detektiert das Observatorium die wenigen Neutrinos, die mit den Elementarteilchen des Eises interagieren. Diese Daten verglichen die Forschenden mit Daten aus Teleskopanlagen, die kosmische Gammastrahlen vermessen. Denn bei der Interaktion von kosmischer Strahlung mit Materie entstehen nicht nur Neutrinos, sondern gleichzeitig auch Gammastrahlen.

Der Milchstraße fehlen Neutrinoquellen

Die Zahl der Neutrinos, die IceCube beobachtet hat, stimmte mit dem Wert überein, den man anhand der Gammastrahlen erwarten würde. Doch als Fang und ihr Team mit einem Modell analysierten, welche Neutrinos ihren Ursprung in der Milchstraße hatten und welche zum sogenannten extragalaktischen Hintergrund gehörten, wurden sie überrascht: Mehr hochenergetische Neutrinos stammten von außerhalb der Milchstraße als von innerhalb. Die Schlussfolgerung der Forschenden: Die Quellen, die in anderen Galaxien eine ganze Bandbreite an Neutrinos mit hoher Energie aussenden, gibt es in der Milchstraße nicht – und gab es auch in den letzten zehntausenden Jahren nicht.

Ein Grund dafür könnte sein, dass die Milchstraße keinen aktiven galaktischen Kern hat. Wenn sich Materie um ein supermassives Schwarzes Loch sammelt, stürzt nur ein Teil hinein – der Rest wird in Form eines Gammajets abgestrahlt. Dabei werden sehr schnelle geladene Teilchen mit hoher Energie frei, die wiederum Neutrinos erzeugen. Im Zentrum der Milchstraße jedoch befinden sich wenige Sterne, die in das Schwarze Loch fallen könnten. Das supermassereiche Schwarze Loch in der Mitte unserer Galaxie scheint daher schon länger ruhig zu sein – falls bei früheren Ausbrüchen hochenergetischen Neutrinos entstanden sind, haben sie die Milchstraße bereits verlassen. Auch sogenannte Tidal Disruption Events, die hochenergetische Neutrinos in großer Zahl erzeugen könnten, sind in der Milchstraße extrem selten – aus denselben Gründen. Denn bei ihnen gerät ein Stern in die Nähe des supermassereichen Schwarzen Lochs im Zentrum einer Galaxie, zerfällt aufgrund der Gezeitenkräfte und bildet eine Akkretionsscheibe um das Schwarze Loch.

Zukünftige Messungen sollen sich nun auf individuelle Neutrinoquellen konzentrieren – so könnten sie mehr Aufschluss dazu geben, welche Arten von Neutrinoquellen in der Milchstraße fehlen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2023/icecube-milchstrasse-erzeugt-wenige-hochenergetische-neutrinos/