Neues Phänomen in der Sonnenkorona entdeckt

Mit der Raumsonde Solar Orbiter entdeckten Forscherinnen und Forscher viele kleine Eruptionen, die den Sonnenwind antreiben könnten.

Rainer Kayser und Redaktion

Nahaufnahme der Sonne, wabernde Wolken, durch die Strahlen hindurchdringen

ESA/Solar Orbiter/EUI/Science/Chitta et al.

Unsere Sonne sendet nicht nur Licht und Wärme aus, sondern auch einen permanenten Strom aus elektrisch geladenen Teilchen. Dieser Sonnenwind schießt mit Geschwindigkeiten von 500 bis 800 Kilometern pro Sekunde durch das Sonnensystem. Wie der Sonnenwind genau entsteht, ist allerdings bislang noch unbekannt. Doch ein internationales Forschungsteam ist der Ursache des Teilchenstroms nun womöglich auf die Spur gekommen. Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „Science“ berichten, entdeckten sie mithilfe der europäischen Raumsonde Solar Orbiter ein neuartiges Phänomen in der Sonnenkorona: eine Vielzahl kleiner Eruptionen, die kurzlebige Materiestrahlen auslösen und somit den Sonnenwind antreiben könnten.

„Wie genau es der Sonne gelingt, den Sonnenwind mit hohen Geschwindigkeiten ins All zu schießen, war bisher unklar“, erläutert Lakshmi Pradeep Chitta vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen. Bekannt war lediglich, dass der Strom aus Elektronen und Protonen aus sogenannten koronalen Löchern stammt – also aus Regionen in der heißen Sonnenatmosphäre mit geringerer Dichte und Temperatur. Dabei spielt vor allem das Magnetfeld der Sonne eine wichtige Rolle. Denn während die magnetischen Feldlinien in der Korona jeweils geschlossene Bögen bilden, reichen sie in den koronalen Löchern offen nach außen, wodurch die elektrisch geladenen Teilchen entweichen können. Aber wie werden die Partikel auf so hohe Geschwindigkeiten beschleunigt?

Dieser Frage gingen Chitta und sein Team nun mithilfe von Aufnahmen der Raumsonde Solar Orbiter der Europäischen Weltraumorganisation ESA nach. Denn am 30. März 2022 erreichte die Raumsonde mit einer Entfernung von 50 Millionen Kilometern den sonnennächsten Punkt ihrer stark elliptischen Umlaufbahn – und konnte mit ihren Instrumenten ein koronales Loch mit einer Auflösung von 200 Kilometern unter die Lupe nehmen. „Diese einzigartigen Aufnahmen haben uns die Möglichkeit geboten, genauer als je zuvor auf die Quellregionen des Sonnenwinds zu schauen und so diesen Prozess besser zu verstehen“, so Chitta. Dabei stießen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überraschenderweise auf viele kleine Materiestrahlen – Jets genannt –, die jeweils 20 bis 100 Sekunden andauern und Geschwindigkeiten von etwa 100 Kilometern pro Sekunde erreichen.

Chitta und sein Team nannten das bisher unbekannte Phänomen „pico flares“, englisch für Piko-Eruptionen, da sie lediglich etwa ein Billionstel der Energie großer Sonneneruptionen freisetzen. Für irdische Verhältnisse ist die Energie einer einzigen Piko-Eruption dennoch riesig: Sie könnte etwa 10 000 Haushalte ein Jahr lang mit Energie versorgen. „Die von uns entdeckten Ströme sind zwar klein und treten nur sporadisch auf“, betont Chitta, „aber sie sind offenbar ein häufiges Phänomen und in dem beobachteten koronalen Loch allgegenwärtig.“ Dank ihrer hohen Anzahl dürften die kleinen Jets damit einen großen Teil der Energie des Sonnenwinds bereitstellen.

Die Forscherinnen und Forscher vermuten, dass die Piko-Eruptionen – ähnlich wie große Strahlungsausbrüche auf der Sonne – durch ein Umstrukturieren des Magnetfelds ausgelöst werden. Chitta und sein Team halten es zudem für möglich, dass es viele, noch kleinere Eruptionen gibt, die den Instrumenten der Sonde bislang verborgen blieben. In den kommenden Jahren soll Solar Orbiter daher auf einer neuen Umlaufbahn um die Sonne die koronalen Löcher noch besser beobachten. Allerdings weisen die Sonnenforscher Ignacio Ugarte-Urra und Yi-Ming Wang vom Naval Research Laboratory in den USA in einem begleitenden Kommentar im Fachjournal „Science“ darauf hin, dass die Piko-Eruptionen das Entstehen des Sonnenwinds noch nicht vollständig erklären. Denn es bleibe die Frage offen, wie die Elektronen und Protonen auf bis zu 800 Kilometer pro Sekunde beschleunigt werden. Die beiden Forscher setzen ihre Hoffnung nun auf zwei von Japan und den USA geplanten Raumsonden, mit denen in den kommenden Jahren die zugrunde liegenden Prozesse untersucht werden könnten.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2023/sonnenwind-neues-phaenomen-in-der-sonnenkorona-entdeckt/