„Über Jahrzehnte hinaus unübertrefflich“
Franziska Konitzer
Seit 2014 erfasst das Weltraumteleskop Gaia die Positionen und Bewegungen von über einer Milliarde Sternen in der Galaxis. Nun veröffentlicht die Europäische Weltraumorganisation ESA den zweiten Datensatz: einen Sternenkatalog gigantischen Ausmaßes. Im Interview erzählt Ulrich Bastian von der Universität Heidelberg und Mitglied des Gaia-Konsortiums, warum die Mission für Astronomen so wichtig ist und welche Einblicke in die Milchstraße sie schon jetzt erlaubt.
Welt der Physik: Welche Informationen enthalten die nun veröffentlichten Daten der Gaia-Mission?
Ulrich Bastian: Zunächst vermisst Gaia die Positionen und die Bewegungen von weit über einer Milliarde Sternen in unserer Milchstraße. Darüber hinaus erfasst Gaia aber auch weitere Eigenschaften der Sterne, also ihre Helligkeiten und ihre Farben. Diese Daten veröffentlichen wir erstmals für über 1,5 Milliarden Sterne. Für viele Millionen Sterne haben wir noch zusätzliche Informationen, beispielsweise ihre Oberflächentemperatur oder ob sich ihre Helligkeiten ändern. Und dann haben wir in unserem Sonnensystem noch 14 000 schon vorher bekannte Objekte neu vermessen – hauptsächlich Asteroiden aus dem Hauptgürtel zwischen Mars und Jupiter. Mit unseren Messungen können wir nun deren Bahnen genauer berechnen. Gaia hat auch neue Objekte im Sonnensystem entdeckt, aber an diesen Daten müssen wir noch ein wenig arbeiten, bevor wir sie veröffentlichen können.
Über eine Milliarde Sterne – das ist eine ganze Menge. Waren davon schon alle vorher bekannt, oder hat Gaia auch neue Sterne entdeckt?
Nein, noch nicht alle waren bekannt. Das liegt daran, dass es vor Gaia noch nie eine derart vollständige Himmelsdurchmusterung gegeben hat. Und weil Gaia ein Weltraumteleskop ist und damit nicht durch die irdische Atmosphäre gestört wird, kann es auch Sterne beobachten, die am Himmel dicht nebeneinander stehen. Astronomen sprechen von einer besonders hohen Winkelauflösung. Die Winkelauflösung von Gaia ist so gut wie die des Weltraumteleskops Hubble. Doch während Hubble immer nur einen winzigen Ausschnitt des Himmels beobachten kann, vermessen wir mit Gaia den gesamten Himmel – Stück für Stück. Deshalb konnten wir so viele neue Sterne entdecken.
Die Europäische Weltraumorganisation ESA bezeichnet den neuen Sternenkatalog als „astronomische Revolution“. Ist diese große Anzahl an neuen Sternen der Grund dafür?
Tatsächlich ist die schiere Menge an Sternen fast noch der kleinere Aspekt. Natürlich ist es sehr wichtig, so viele Sterne wie möglich zu vermessen. Schließlich sind die Astronomie und die Astrophysik eigentlich statistische Wissenschaften. Ein Beispiel ist der Spiralarm unserer Milchstraße: Ein einzelner Stern kann uns nicht verraten, ob er Teil eines Spiralarms ist oder nicht. Um das herauszufinden, müssen wir Tausende von Sternen beobachten. Das Entscheidende bei diesem Sternenkatalog sind aber vor allem die Genauigkeit und die Einheitlichkeit der vermessenen Sternpositionen und -bewegungen.
Warum ist gerade das entscheidend?
In der Astrophysik brauchen wir im Allgemeinen immer größere Teleskope, die immer mehr Licht einfangen können, um noch weiter in das Universum hinauszuschauen. Mit Gaia betreiben wir dagegen Astrometrie, also Positionsmessung. Dafür brauchen wir nicht unbedingt größere, sondern vor allem genauere Teleskope. Entscheidend ist also nicht mehr Licht, sondern mehr Messgenauigkeit. Denn die scheinbaren Positionsveränderungen der Sterne werden immer kleiner, je weiter die Sterne entfernt sind. Hier ist Gaia wirklich der große Schritt vorwärts. Wir geben Positionsveränderungen am Himmel in der Maßeinheit „Bogensekunden“ für Winkel an. Vom Erdboden aus erreicht man bei einzelnen Himmelsobjekten mit viel Mühe vielleicht Genauigkeiten von einigen Hundertstel Bogensekunden. Mit Gaia haben wir jetzt Beobachtungsgenauigkeiten von einigen Millionstel Bogensekunden erreicht.
Zwar wird der zweite Datensatz erst heute veröffentlicht, doch die Wissenschaftler des GAIA-Konsortiums – zu dem auch Sie gehören – sind schon seit Monaten und Jahren mit der Datenverarbeitung beschäftigt. Stößt man da nicht schon auf spannende Objekte?
Nun, die Wissenschaftler des Gaia-Konsortiums bereiten die Daten so auf, dass sie überhaupt wissenschaftlich nutzbar sind und veröffentlicht werden können. Wir haben uns allerdings dazu verpflichtet, vor der offiziellen Veröffentlichung damit keine eigene Wissenschaft zu betreiben. Erst ab heute können alle – sowohl Wissenschaftler als auch die Öffentlichkeit – auf den Sternenkatalog zugreifen und damit forschen.
Was hat Sie besonders beeindruckt als Sie den Sternkatalog erstellt haben?
Wir können die Geschwindigkeitsverteilung der Sterne in unserer Nachtbarschaft jetzt sehr klar darstellen. Trägt man diese Geschwindigkeiten in ein Diagramm ein, lassen sich verschiedene Strukturen erkennen. Und jede einzelne dieser Strukturen hat eine physikalische Bedeutung, jede Struktur hat eine Ursache. Herauszufinden, was dahintersteckt, wird spannend. Beispielsweise besagt das Standardmodell der Kosmologie, dass es in der Milchstraße große Klumpen an Dunkler Materie geben muss. Diese können wir mit unseren Teleskopen zwar nicht direkt nachweisen, aber in diesen Geschwindigkeitsstrukturen lassen sich vielleicht Hinweise darauf finden. Darin könnte also eine ganz wichtige Bestätigung für eine ganz fundamentale kosmologische Angelegenheit stecken.
Wie lange wird Gaia den Himmel noch vermessen?
Die eigentliche Wissenschaftsmission ist auf fünf Jahre ausgelegt, wäre also Mitte 2019 zu Ende. Die ESA hat bereits einen verlängerten Betrieb bewilligt – bis Ende 2020 wird Gaia also auf jeden Fall messen. Und dem Weltraumteleskop geht es derzeit sehr gut, der technische Status ist ausgezeichnet. Es ist für uns wichtig, noch mehr und noch länger zu messen. Denn was Gaia jetzt macht, wird über Jahrzehnte hinaus unübertrefflich und nicht wiederholbar sein. Selbst wenn jetzt ein neues Projekt anlaufen würde, bräuchte es mindestens dreißig Jahre bis zur ersten Messung. Aber wahrscheinlich wird es ein halbes Jahrhundert lang nichts Vergleichbares geben. Und so lange werden Astronomen mit den Daten von Gaia auch tatsächlich arbeiten.
2016 wurden bereits Daten von Gaia veröffentlicht. Was unterscheidet die beiden Datenveröffentlichungen?
Die erste Datenveröffentlichung war nur ein Appetithäppchen. Sie enthielt nur 0,15 Prozent der Daten, die wir jetzt haben. Das waren lediglich die Eigenbewegungen und Positionen von zwei Millionen Sternen. Jetzt haben wir nicht nur 700-mal mehr Sterne – die Eigenbewegungen und Positionen wurden nun auch zwischen drei- und achtmal genauer gemessen. Von der schieren Größe her ist das jetzt der eigentliche Sternenkatalog, den Astronomen seit Jahrzehnten erwarten.
Haben die ersten 0,15 Prozent der Daten schon wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglicht?
Aber natürlich haben sie das. Zum Beispiel war es eine riesige Überraschung, dass wir mithilfe dieses kleinen Datensatzes einen riesigen Sternhaufen entdeckt haben, den man eigentlich schon seit Jahrhunderten mit den verfügbaren Teleskopen hätte sehen können. Dieser Sternhaufen ist ein Riesenbrocken mit 14 000 Sonnenmassen! Er hätte wirklich jemandem schon vorher auffallen können. Das Dumme ist nur, dass er am Himmel direkt neben Sirius – dem hellsten Stern des Himmels – liegt. Vom Erdboden aus ist dieser Sternhaufen deshalb immer überstrahlt. Auch Hubble guckt dort nicht hin, weil das Weltraumteleskop ebenfalls von Sirius geblendet wird. Inzwischen haben es sogar Amateurastronomen geschafft, diesen Sternhaufen trotz des Lichts von Sirius zu fotografieren.
Wird es noch weitere Datenveröffentlichungen geben?
Ja, natürlich. Wir werden die Daten, die uns Gaia liefert, noch weiter verbessern. Aber der nun präsentierte Sternenkatalog ist der ganz große Schritt. Damit lösen wir erstmals das eigentliche Versprechen von Gaia ein: eine umfassende und hochgenaue Himmelsdurchmusterung.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2018/ueber-jahrzehnte-hinaus-unuebertrefflich/