„Der wesentliche Faktor ist die Zeit“
Dirk Eidemüller
Wie neue Planetensysteme entstehen, gehört zu den spannendsten Fragen der Astrophysik. Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, haben Forscher nun mehr als 800 protoplanetare Scheiben in der etwa 1350 Lichtjahre entfernten Molekülwolke Orion A untersucht. Mithilfe von Daten der Teleskopanlage ALMA in Chile bestimmten die Astronomen etwa die Massenverteilung der planetenbildenden Regionen und gewannen so neue Erkenntnisse über die Entwicklung der Scheiben. Was diese neuen Ergebnisse über den Zusammenhang von Alter und Masse der Scheiben verraten, erzählt Sierk van Terwisga vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Warum haben Sie protoplanetare Scheiben in der Molekülwolke Orion A untersucht?
Sierk van Terwisga: Der Orionnebel ist ein großer Komplex aus Molekülwolken, in dem an vielen Orten eine rege Sternentstehung stattfindet. Das liefert reichlich Material für die Untersuchung protoplanetarer Scheiben um junge Sterne. Allerdings befinden sich dort auch viele sehr massereiche junge Sterne. Diese senden enorm starke Sternwinde und UV-Strahlung aus, was die Entwicklung protoplanetarer Scheiben weiträumig über Distanzen von mehreren Lichtjahren stören kann. Wir haben uns deshalb auf einen ziemlich ruhigen Teil von Orion A beschränkt, in dem sich protoplanetare Scheiben ungestört entwickeln können. Davon haben wir uns Aufschluss über typische Entstehungsprozesse von neuen Planetensystemen erhofft.
Wie viele protoplanetare Scheiben haben Sie untersucht?
Wir haben insgesamt 873 protoplanetare Scheiben in ihren Eigenschaften beschrieben. Das ist ein sehr großer Datensatz, größer als der von bisherigen Studien dieser Art. Möglich war das, weil sich mit den – mittlerweile abgeschalteten – Weltraumteleskopen Spitzer und Herschel viele dieser neuen Planetensysteme identifizieren ließen. Spitzer und Herschel sind Infrarotteleskope und waren deswegen gut geeignet, um den heißen inneren Bereich von protoplanetaren Scheiben zu entdecken. Denn dieser Bereich wird von der Strahlung des jungen Sterns im Zentrum der Scheibe angestrahlt und leuchtet dann im infraroten Licht. Aber mit den Daten dieser Teleskope erhält man noch keine Informationen über die Ausdehnung und weiteren Charakteristika der Scheibe, und insbesondere nicht über ihre Masse.
Wie haben Sie diese Daten dann gewonnen?
Hierzu haben wir auf die Teleskopanlage ALMA zurückgegriffen, einem Verbund aus 66 Teleskopen auf dem Hochplateau der chilenischen Atacamawüste. Diese Teleskope können wesentlich langwelligere Strahlung mit sehr hoher Auflösung aufnehmen. Damit lässt sich auch der kalte Staub in großer Entfernung vom Stern aufzeichnen, sodass wir die Gesamtmasse der protoplanetaren Scheiben bestimmen konnten. Denn das Verhältnis von Gas- und Staubmasse ist bekannt. Gleichzeitig lassen sich mit ALMA keine Planeten oder große Felskörper beobachten. Wir sehen in unseren Daten also nur das Material, aus dem sich noch Planeten bilden können.
Wie schwer ist so eine protoplanetare Scheibe durchschnittlich?
Das kann sehr stark variieren. Die Masse hängt unter anderem davon ab, wie groß und dicht die Gas- und Staubwolke anfangs ist, die schließlich zu einem neuen Planetensystem kollabiert. Die Masse der von uns beobachteten Systeme reicht von ungefähr der Masse des Erdmondes bis hin zu Hunderten Erdmassen. Sehr schwere Scheiben sind allerdings selten. Wir haben nur zwanzig Scheiben nachgewiesen, die mehr als hundert Erdmassen auf die Waage bringen. Im Durchschnitt entspricht die Masse etwas mehr als zwei Erdmassen.
Wie entwickeln sich die Scheiben im Lauf der Zeit?
Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Eigenschaften, die bei der Entstehung und Entwicklung von Planetensystemen eine Rolle spielen, wie etwa die chemische Zusammensetzung oder die Dynamik der Ursprungswolke. Wie wir in unserer Analyse jetzt festgestellt haben, hat all das interessanterweise kaum einen Effekt auf die Masse einer typischen Scheibe. Der einzige wesentliche Faktor für die Entwicklung der protoplanetaren Scheibe ist die Zeit: Im Lauf der Jahrhunderttausende und Jahrmillionen schrumpft die Masse. Das ist auch zu erwarten, weil sich aus dem Material ja Planeten, Asteroiden und Kometen bilden. Außerdem bläst der Sternwind stetig einen Teil des Staubs nach außen.
Was lässt sich daraus allgemein für die Bildung von Planetensystemen schließen?
Das ist eine schwierige Frage, da sich die galaktischen Rahmenbedingungen doch sehr unterscheiden. Wir haben aber die Systeme in Orion A mit anderen Sternentstehungsgebieten in unserer galaktischen Umgebung verglichen und sehr ähnliche Daten erhalten. Die hohe Regelmäßigkeit, die wir sehen, ist schon auffällig. Man könnte fast sagen, am überraschendsten ist, dass die Daten keine Überraschungen aufweisen. Ich denke, man kann zumindest für unsere nähere galaktische Umgebung sagen, dass alle Gruppierungen von planetenbildenden Scheiben eine ähnliche Massenverteilung bei einem bestimmten Alter zeigen. Die Entwicklung von Planetensystemen könnte also erstaunlich gleichförmig verlaufen. Genaueres wird man aber erst in Zukunft wissen, denn wir müssen noch sehr viel mehr junge Planetensysteme im Detail untersuchen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/planetenentstehung-der-wesentliche-faktor-ist-die-zeit/