„Das Leben eines Sterns in Echtzeit miterleben“
Dirk Eidemüller

ESO/L. Calçada
Welt der Physik: Was genau haben Sie beobachtet?
Keiichi Ohnaka: Zum ersten Mal ist es uns gelungen, ein vergrößertes Bild eines sterbenden Sterns in einer Galaxie außerhalb unserer eigenen Milchstraße aufzunehmen – ein Stern namens WOH G64 in der Großen Magellanschen Wolke. Dazu haben wir das Instrument GRAVITY am Very Large Telescope genutzt, das einzigartige Möglichkeiten bietet. Wir entdeckten auf unserer Aufnahme einen eiförmigen Kokon, in dem der Stern verborgen ist, umgeben von einem Ring. Das bedeutet, dass der sterbende Stern eine Menge Material ausstößt. Außerdem haben wir herausgefunden, dass WOH G64 sein Aussehen in den letzten zehn Jahren stark verändert hat. Dies gibt uns die seltene Gelegenheit, das Leben eines Sterns in Echtzeit mitzuerleben, insbesondere die letzten Phasen vor seinem Tod, der vermutlich in Form einer Supernova eintreten wird.
Warum war es nicht schon früher möglich, solche Bilder zu machen?
Man braucht dazu ein enorm hohes Auflösungsvermögen, also sozusagen einen hohen Zoom, um ein Bild eines Sterns außerhalb unserer Galaxie zu machen. Je größer der Durchmesser des Teleskops ist, desto höher ist das Auflösungsvermögen. Um eine Nahaufnahme von WOH G64 zu machen, bräuchte man eigentlich ein Teleskop, das größer als 100 Meter ist. Ein solches Teleskop gibt es aber nicht, und es wäre technisch sehr schwierig zu bauen. Gegenwärtig ist das Extremely Large Telescope in der Atacama-Wüste in Chile in Bau, das einen Spiegeldurchmesser von 39 Metern haben wird. Aber auch das wäre noch deutlich zu wenig.
Also es gibt eigentlich kein passendes Teleskop. Wie ist Ihnen dennoch die Aufnahme gelungen?
Stattdessen haben wir vier kleinere Teleskope von je 1,8 Metern Durchmesser zu einem virtuellen Flickenteleskop kombiniert. Diese vier Teleskope sind Hilfsteleskope des Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile. Wir haben das Licht dieser vier Teleskope mit einer Technik namens Interferometrie gesammelt und verarbeitet. Bei dieser Technik ist das Auflösungsvermögen umso höher, je größer der Abstand zwischen den Teleskopen ist. Bei unseren Beobachtungen betrug der maximale Abstand 130 Meter zwischen den Teleskopen. Das entsprach dem Auflösungsvermögen eines 130-Meter-Teleskops – was wir für die Aufnahme des Bildes benötigten.
Sie haben den Stern schon einmal vor einigen Jahren untersucht. Worin unterscheiden sich die Beobachtungen des Sterns?
Bereits 2005 und 2007 haben wir WOH G64 mit einem früheren interferometrischen Instrument untersucht. Damals war es uns gelungen, zum ersten Mal die Winkelgröße bei einem einzelnen Stern außerhalb unserer Galaxie zu messen – also den Winkel, unter dem wir ihn von der Erde aus sehen. Dieses Instrument kombinierte jedoch nur zwei Teleskope, weshalb wir kein richtiges Bild aufnehmen konnten. Den jetzigen Erfolg verdanken wir der hohen Empfindlichkeit von GRAVITY und seiner Fähigkeit, vier Teleskope für die Aufnahme eines Bildes zu kombinieren.
Entsprechen Ihre neuen Erkenntnisse auch den theoretischen Vorhersagen?
Das neue Bild stimmt nicht mit den Vorhersagen des Computermodells überein, das wir anhand von älteren Daten aus den Jahren 2005 und 2007 erstellt haben. Wir haben die Helligkeit und die Spektren von WOH G64, die in den letzten Jahrzehnten aufgezeichnet wurden, überprüft und festgestellt, dass der Stern aufgrund des von ihm ausgestoßenen Materials mittlerweile viel stärker umhüllt ist als früher. Wir vermuten, dass der Stern irgendwann zwischen 2010 und 2016 begonnen hat, mehr Material auszustoßen. Jetzt ist der Stern im Zentrum des eiförmigen Kokons des ausgestoßenen Materials verborgen.
Werden Sie auch weiterhin WOH G64 beobachten?
Ja, vor einem Jahr haben wir begonnen, die Helligkeit von WOH G64 zu beobachten – wir messen seine Helligkeit im sichtbaren und infraroten Licht einmal im Monat mit einem kleinen Teleskop in Chile. Bislang können wir feststellen, dass der Stern im sichtbaren Licht immer schwächer wird. Wir wollen wissen, was im Stern im Inneren des eiförmigen Kokons vor sich geht. Ein weiteres Ziel ist es, ein Bild von WOH G64 mit einem anderen Instrument am Very Large Telescope im mittleren Infrarotbereich aufzunehmen. Denn wir wollen das kalte, ausgestoßene Material untersuchen, das wir im jetzigen Bild nicht erkennen können.
Gibt es noch andere Teleskope, mit denen der Stern beobachtet werden könnte?
Wenn wir eines Tages WOH G64 mit James Webb beobachten können, dann würden wir Informationen über das vom Stern ausgestoßene Material erhalten. Daraus ließe sich ableiten, welche Art von Staub und Moleküle sich dort bilden. Aber auch das Spektrum des Sterns liefert wichtige Informationen, zum Beispiel über die Entwicklung des Sterns, der sich im Kokon des staubigen Materials verbirgt. Doch WOH G64 wird schwach bleiben und noch schwächer werden. Das macht es uns sehr schwierig, das Spektrum des Sterns zu analysieren. Hier können uns dann die kommenden Riesenteleskope – vor allem das erwähnte Extremely Large Telescope – mit ihrer Fähigkeit, schwache Sterne mit ihren großen Spiegeln zu beobachten, helfen.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/sterne/very-large-telescope-das-leben-eines-sterns-in-echtzeit-miterleben/