Vermessung der Milchstraße mit Gaia
Maike Pollmann
Die am 19. Dezember 2013 gestartete Raumsonde Gaia soll Position, Entfernung und Geschwindigkeit von einer Milliarde Sternen in der Galaxis mit bisher unerreichter Präzision aufzeichnen. Im Podcast stellte Stefan Jordan vom Astronomischen Rechen-Institut an der Universität Heidelberg die Mission vor und erklärte, warum Astronomen die ersten Ergebnisse schon mit Spannung erwarten. Hier finden Sie den Beitrag zum Nachlesen.
Auf den zahllosen Portraits der Milchstraße verdichten sich Gaswolken und schätzungsweise hundert bis dreihundert Milliarden Sterne zu Spiralarmen, die sich um eine zentrale Verdickung winden. Unser Sonnensystem befindet sich am Rande einer dieser Spiralarme – im sogenannten Orionarm. Von dieser Position aus betrachtet, also innerhalb der Milchstraßenscheibe, stellt sich die Galaxis tatsächlich aber nur als helles Band am Nachthimmel dar.
Stefan Jordan: „Unsere heutige Vorstellung beruht also darauf, dass wir in bestimmte Richtung gucken und die Sterne zählen, die Entfernungen von Objekten in der Milchstraße messen und uns die Bewegungen von den Gaswolken und den Sternen angucken.“
Ein detailgetreues Abbild der Milchstraße zu zeichnen, so als würde man sie von einer Nachbargalaxie aus beobachten, ist also ganz und gar nicht trivial. Bei den vielen Portraits der Milchstraße handelt es sich damit auch eher um vorläufige Darstellungen, als um gesichertes Wissen. Neben Gas- und Staubwolken, die den Blick in die Galaxis vernebeln, besteht das Hauptproblem der bisherigen Messungen darin, dass man zwar die Position der Sterne am Himmel recht genau kennt, nicht aber deren Entfernung. Denn meist lassen sich astronomische Distanzen nur mit indirekten Methoden bestimmen, wodurch das Ergebnis eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt. Ein direktes und sehr genaues Messverfahren arbeitet mit der jährlichen Parallaxe eines Sterns.
„Also eine Parallaxe – auch wenn Sie den Begriff vielleicht nicht kennen – ist aus dem Alltag bekannt. Wenn man seine Position verändert und einen Gegenstand anvisiert, ändert sich die Richtung zu dem Gegenstand, je nachdem in welcher Entfernung er sich befindet. Deshalb haben wir ja auch zwei Augen, weil jedes von unseren beiden Augen ein Objekt aus einer etwas anderen Richtung sieht. In der Astronomie ist es nun so, dass wir ausnutzen, dass die Erde sich im Laufe eines Jahres um die Sonne bewegt – also auch eine gewisse Strecke zurücklegt: Ein halbes Jahr später sind wir zweimal die Entfernung zwischen Erde und Sonne entfernt von unserem Ausgangsstandpunkt, also zweimal 150 Millionen Kilometer weiter entfernt und gucken dann schon ein bisschen in eine andere Richtung.“
Enorme Präzision
Die Sterne scheinen sich im Lauf eines Jahres also relativ zum Hintergrund hin- und herzubewegen. Je näher ein Stern der Erde ist, desto größer ist diese scheinbare Verschiebung – oder Parallaxe. Allerdings fällt die Winkelverschiebung selbst für benachbarte Sterne extrem klein aus. Für den nächsten Stern, der 4,3 Lichtjahre entfernt ist, beträgt die Parallaxe beispielsweise weniger als eine Bogensekunde, wobei eine Bogensekunde ein 3600-stel eines Grades ist. Und die Milchstraße hat einen Durchmesser von mehr als hunderttausend Lichtjahren – die Distanz zu den meisten Sternen ist also weitaus größer, und die Parallaxe entsprechend kleiner. Deren Messung erfordert eine enorme Präzision.
„Und gerade diese Genauigkeit ist eines der Kennzeichen von dem Gaia-Projekt, an dem wir hier arbeiten. Wir wollen damit die besten Parallaxen auf eine Genauigkeit messen, die nicht eine Bogensekunde beträgt, sondern zehn Mikrobogensekunden sollen die besten Werte sein – das sind zehn Millionstel einer Bogensekunde. Und um eine Vorstellung davon zu kriegen, wie klein ein solcher Wert ist: Das entspricht dem Winkeldurchmesser eines Euros auf dem Mond, also in Mondentfernung.“
Der Gaia-Satellit wird gut 1,5 Millionen Kilometer von uns entfernt am sogenannten Lagrange-Punkt 2 stationiert und dort gemeinsam mit der Erde die Sonne umrunden. An Bord des Satelliten befinden sich zwei Teleskope, die das Sternlicht bündeln und auf eine Digitalkamera mit einem Gigapixel lenken. Alle sechs Stunden dreht sich der Satellit einmal um seine eigene Achse. Dabei verlagert sich die Rotationsachse allmählich im Raum – ähnlich wie bei einem taumelnden Kreisel –, sodass Gaia in jeweils einem halben Jahr den gesamten Himmel abtastet.
„Die Messung von Gaia mithilfe dieser Kamera erfolgen übrigens über Zeitmessungen – wann immer ein Stern über diese Detektoren hinwegwandert. Und diese Zeitmessungen müssen ebenfalls äußerst präzise gemacht werden, deshalb hat man auch Atomuhren an Bord. Dadurch das Gaia im Lauf der Zeit in verschiedenen Richtungen über den Himmel scannt, kann man die Sterne unter verschiedenen Richtungen aufnehmen, man kann Winkel zwischen den Sternen messen, und zwar auch Winkel zwischen Gebieten, die weit auseinanderliegen.“
Gaia erfasst alle Sterne, die eine gewisse Grenzhelligkeit – die sogenannte zwanzigste Größenklasse – überschreiten. Zum Vergleich: Mit bloßem Auge kann man in klaren Nächten Sterne bis zur sechsten Größenklasse erkennen, im Fernglas etwa bis zur zehnten Größenklasse. Gaia kann damit bis zu 25 000 oder 30 000 Lichtjahre entfernte Sterne noch zuverlässig vermessen, also etwa bis hin zum galaktischen Zentrum und bis zu dem uns nächsten Rand der Milchstraße. Alles in allem werden so rund eine Milliarde Sterne erfasst, wobei Gaia jeden Stern etwa siebzigmal ablichten wird. Von Beobachtung zu Beobachtung bewegt sich der Stern am Himmel weiter – einmal durch die Eigenbewegung des Sterns, andererseits durch den Parallaxeneffekt. Aus den aufgezeichneten Positionen und Zeiten können die Forscher dann die Position, Bewegung und Entfernung der Sterne berechnen.
Gleichungssystem mit fünf Milliarden Unbekannten
„Am Ende müssen wir ein Gleichungssystem lösen, das etwa fünf Milliarden Unbekannte hat – nämlich fünf Unbekannte für jeden Stern. Das sind die Positionen, dafür gibt es zwei Unbekannte am Himmel, das ist die Bewegung, das sind weitere zwei, und die Entfernung. Und zusätzlich hat man eine Billion Messungen, die man mit Gaia macht. Man löst also ein Gleichungssystem, welches am Ende eine Billion Gleichungen mit fünf Milliarden Unbekannten hat. Und das ist natürlich der Aufwand, den man treiben muss. Deshalb kann man auch nicht täglich schnell mal die Position der Sterne, die man schon gemessen hat, angeben.“
Ein wichtiger Punkt bei solchen Messungen ist das Kalibrieren der Daten. Da kein anderes Instrument auch nur annähernd so genau ist wie Gaia, müssen die Forscher die von Gaia gesammelten Daten selbst nutzen, um den Maßstab des Systems festzulegen. Außer den fünf Milliarden Unbekannten für die Sterneigenschaften kommen also noch einmal ähnlich viele Parameter für diese Selbstkalibration hinzu. Diese sagen beispielsweise etwas darüber aus, wie die lichtempfindlichen Sensoren der Kamera angeordnet sind oder in welche Richtung Gaia zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt schaut.
„Bis auf einige Unbekannte, zum Beispiel dass das ganze System eine Gesamtrotation hat, die man nicht aus dem Gaia-Daten bestimmen kann, kann man tatsächlich – das hat man simuliert – die einzelnen Parameter mit recht hoher Genauigkeit, also mit der Genauigkeit, die man auch anstrebt, ermitteln. Natürlich wurde im Lauf der Jahre mithilfe von simulierten Sterndaten getestet, ob diese mathematischen Verfahren auch funktionieren, denn sonst bräuchte man Gaia natürlich gar nicht zu fliegen.“
Solche präzisen Angaben für Position und Entfernung von Sternen würden es erlauben, die Struktur der Milchstraße deutlich genauer nachzuzeichnen. Die exakte Bewegung der Sterne wird dagegen Einblicke in die Geschichte der Galaxis geben. So lassen sich vielleicht Sterngruppen entdecken, die ein Überbleibsel einer früher eigenständigen Galaxie sind, die mit der Milchstraße verschmolz. Doch nicht nur Position, Bewegung und Entfernung von Sternen wird Gaia vermessen.
„Darüber hinaus wird Gaia auch weitere Messungen an den Sternen machen. Wir werden wissen, welche Farben die Sterne haben, wir werden Spektren aufnehmen – also die Energieverteilung von Sternen messen –, dadurch auch etwas über deren Temperatur herausbekommen und auch etwas über die Geschwindigkeit lernen, mit der sie sich auf uns zubewegen oder von uns wegfliegen. Letzteres wird allerdings nur für etwa zehn Prozent der Sterne gemacht, während die Positionsmessung und die Farbbestimmung für alle Sterne gemacht werden, die Gaia misst, also eine Milliarde Sterne.“
Jeden Tag wird der Satellit rund fünfzig Gigabyte an Daten an die Bodenstationen übertragen. Am Ende der Mission kommen so eine Million Gigabyte zusammen. Um diese Datenflut auszuwerten, braucht man leistungsstarke Computernetzwerke, speziell entwickelte Algorithmen und nicht zuletzt viel Personal: Allein auf wissenschaftlicher Seite arbeiten mehr als vierhundert Wissenschaftler und Computerspezialisten an der Datenauswertung, darunter auch Stefan Jordan und seine Kollegen in Heidelberg. Gaia soll mindestens fünf Jahren messen, möglicherweise ein weiteres Jahr.
Vielfältiger Nutzen
„Die erste Phase wird allerdings eine sein, in der man den Satelliten auf Herz und Nieren testet, die sogenannte Commissioning-Phase. Die wird vielleicht etwa ein halbes Jahr dauern – je nachdem, wie gut man Gaia dann versteht. Danach werden dann für fünf Jahre Messungen gemacht und am Ende, wenn die Messungen alle vorhanden sind, wird man einige Zeit brauchen, um dann den endgültigen Katalog zu erstellen. Dieses wird dann wahrscheinlich im Jahr 2022 herum sein.“
Da viele Astronomen die Ergebnisse aber schon mit Spannung erwarten, wird man auch vorher schon Kataloge erstellen, den ersten etwa zwei Jahre nach dem Start. Nutzen lassen sich die von Gaia gesammelten Daten in vielfältiger Weise. Sie erlauben es beispielsweise, bei Hunderttausenden Sternen in einem Radius von fünfhundert Lichtjahren um die Erde nach Planeten zu fahnden.
„Gaia wird Exoplaneten allerdings nicht direkt messen können. Gaia wird aber in der Lage sein, sie indirekt nachzuweisen. Dazu müssen sie Massen haben, die vergleichbar sind mit der unseres Jupiters und dann kann man durch die Wackelbewegung der Sterne – die ja mit dem Planeten um einen gemeinsamen Schwerpunkt laufen – nachweisen, dass es sich um einen Planeten handelt. Diese Methode wird für die Radialgeschwindigkeit – also der Geschwindigkeit, mit der ein Stern auf uns zukommt oder von uns wegfliegt – schon angewendet. Mit Gaia können wir aber erstmals auch die Wackelbewegung quer dazu messen, das heißt, wie ein Stern am Himmel seine Position verändert, und daraufhin können wir dann auf die Masse und die Bahn von einem Exoplaneten schließen. Wir können damit vor allen Dingen auch genauer sagen, welche Bahnneigung dieser Exoplanet hat – etwas, was man mit den bisherigen Methoden nicht so ohne Weiteres herausbekommen kann.“
Gaia dürfte die Liste der bekannten Exoplaneten voraussichtlich um einige Tausend Exemplare erweitern. Die Bewegungsmuster der Sterne sagen aber auch etwas über die noch unverstandene Dunkle Materie aus, die über achtzig Prozent der Materie im Universum stellen soll. Denn die Bewegung der Sterne wird durch die Gravitationswirkung anderer Massen – durch das sogenannte Schwerefeld – beeinflusst.
„Dieses Schwerfeld kommt von den Sternen, die sich in der Milchstraße bewegen, und von den Gaswolken – Materie also, die wir sehen –, aber auch von der sogenannten Dunklen Materie, die wir nicht sehen und von der wir physikalisch nicht wissen, worum es sich dabei handelt. Wir können aber die Gravitationswirkung dieser Dunklen Materie dadurch sehen, auf welche Weise sich die Sterne durch den Raum bewegen, und dadurch letztlich auch etwas darüber aussagen, wie sich die Dunkle Materie in unserer Milchstraße verteilt.“
Warten auf erste Ergebnisse
Es ließen sich aber beispielsweise auch alternative Gravitationstheorien testen. Da der Satellit alle genügend hellen Lichtpunkte am Himmel aufzeichnet, ohne deren Ursprung zu kennen, dürften auch viele bisher unbekannte Himmelskörper erfasst werden.
„Gaia wird also neben der Tatsache, dass die Objekte sehr genau vermessen werden, auch eine Entdeckungsmaschine sein, mit der man viele Objekte sehen wird, die man vorher nicht kannte – vor allem Objekte, die man vorher nicht klassifiziert hat. Man kannte sie vielleicht als Lichtpunkt, aber wusste zum Beispiel nicht, dass es sich um einen Weißen Zwerg handelte oder um einen Galaxienkern oder einen Quasar.“
Aber auch unser Sonnensystem wird Gaia im Blick haben. So wird der Satellit die Positionen und Geschwindigkeiten von mehr als 200 000 Asteroiden sehr genau messen – auch solche nahe der Sonne, die erdgebundene Teleskope nicht aufspüren können. Und noch einen interessanten Nebenaspekt bietet die Mission: Laut Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist der Raum in unserem Sonnensystem nicht flach, sondern wird vor allem durch die Masse der Sonne, aber auch durch die der Planeten und Monde gekrümmt. Das Licht der Sterne wird durch diese „Dellen“ im Raum abgelenkt.
„Also etwas besonders Spannendes ist, finde ich, dass Gaia nicht nur die Lichtablenkung an der Sonne messen kann, sondern auch die an den großen Planeten. Insbesondere der Planet Jupiter sorgt dafür, dass auch an ihm Lichtstrahlen abgelenkt werden. Erst mit Gaia kann man eine Genauigkeit erreichen, auch diesen Effekt zu messen und man kann dann umgekehrt etwas darüber aussagen, wie das Gravitationspotenzial von Jupiter ist.“
Da die Allgemeine Relativitätstheorie in die Interpretation der Daten eingeht, wird man mithilfe der präzisen Messungen von Gaia, die Einsteinschen Gleichungen mit bisher unerreichter Genauigkeit überprüfen können. Man darf also gespannt sein auf die ersten Ergebnisse der Mission – denn diese dürften nicht nur für die genannten, sondern auch für viele weitere Gebiete der Astronomie von großem Nutzen sein.
„Ich würde sogar sagen, das Gaia die Astronomiemission sein wird, die am meisten Einfluss in wissenschaftlicher Art und Weise auf die Astronomie der nächsten Jahre und Jahrzehnte haben wird.“
Welt der Physik CC by-nc-nd
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/teleskope-und-satelliten/gaia/