„Eine riesige astronomische Schatzkiste“
Dirk Eidemüller
Nach vier Jahren veröffentlichte die europäische Weltraumorganisation ESA jüngst einen weiteren Datenkatalog des Weltraumteleskops Gaia. Neben über 1,8 Milliarden Sternen enthält der dritte Datensatz – Gaia DR3 – auch zahlreiche Galaxien, Quasare und Asteroiden. Von einem Teil dieser Objekte wurden nicht nur der Ort und die Geschwindigkeit, sondern erstmals auch die abgegebene Strahlung – das sogenannte Spektrum – mit in den Katalog aufgenommen. Welche Bedeutung diese neuen Daten für die Astronomie haben, berichtet Stefan Jordan von der Universität Heidelberg im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Was ist der Hauptzweck der Gaia-Mission?
Stefan Jordan: Gaia ist eine europäische Satellitenmission, die eine möglichst umfangreiche Präzisionskartierung von astronomischen Objekten zum Ziel hat. Gaia befindet sich am sogenannten Lagrangepunkt L2, also von der Sonne aus gesehen rund 1,5 Millionen Kilometer hinter der Erde. An diesem für Weltraumteleskope sehr populären Beobachtungsort befindet sich jetzt auch das James-Webb-Weltraumteleskop. Im Gegensatz zu diesem observiert Gaia aber nicht einzelne, scharf begrenzte Himmelsregionen, sondern den gesamten Himmel.
Wie funktioniert das?
Dazu rotiert Gaia langsam alle sechs Stunden – also viermal am Tag – um ihre eigene Achse. Außerdem umläuft Gaia gemeinsam mit der Erde einmal im Jahr die Sonne. Dabei tasten die zwei Hauptspiegel schrittweise den gesamten Himmel ab und können dank der hochwertigen Kameratechnik an Bord eine riesige Menge an astronomischen Objekten präzise vermessen. Aus diesen Daten lassen sich der Ort, die Bewegung und bei manchen Objekten – abhängig von der Größe, Entfernung und Helligkeit – auch das Spektrum bestimmen.
Wie vermisst Gaia all diese Objekte?
Während der Satellit um die Sonne kreist, ändert sich der Ort von Gaia und damit die Richtung zu den Sternen der Milchstraße. Aus dieser scheinbaren Richtungsänderung der Sterne, die man Parallaxe nennt, lässt sich die Entfernung der Sterne bestimmen. Je weiter weg die Sterne sind, desto kleiner ist der Effekt. Aber Gaia kann mit ihrer hochpräzisen und stabilen Optik sowie einer Atomuhr an Bord die Entfernung vieler Sterne unserer Milchstraße hervorragend bestimmen. Gemeinsam mit der Beobachtungsrichtung, in der wir ausreichend nahe Himmelskörper sehen, können wir so alle drei Raumkoordinaten angeben.
Und wie lassen sich die Geschwindigkeiten der Objekte bestimmen?
Aus Messungen, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchführen, kann Gaia die Bewegung der Sterne senkrecht zur Blickrichtung bestimmen. Die Geschwindigkeit eines Sternes auf uns zu oder von uns weg – die Radialgeschwindigkeit – lässt sich aus der Verschiebung von Spektrallinien anhand des Dopplereffekts nachweisen. Wenn das alles klappt, dann erhalten wir den kompletten Satz von Orts- und Bewegungskoordinaten eines Objekts. Von insgesamt 33 Millionen Objekten haben wir jetzt neben dem Ort auch alle drei Komponenten der Raumgeschwindigkeiten. Im vorherigen, zweiten Datenkatalog wurden nur von sieben Millionen Objekten die Radialgeschwindigkeiten veröffentlicht. Ebenfalls Teil des neuen Gaia-Katalogs sind nun eine Million qualitativ hochwertiger Spektren, die für die Radialgeschwindigkeitsbestimmung benutzt wurden. Diese erlauben auch eine Analyse der chemischen Zusammensetzung der Sternatmosphären.
Was lässt sich daraus lernen?
Die Bestimmung dieser fundamentalen Parameter ist die Grundvoraussetzung für die Interpretation fast aller astronomischen Beobachtungen. Aus der Bewegung verschiedener Sterngruppen in der Milchstraße können wir zusammen mit Computersimulationen die Vergangenheit unserer Galaxie erforschen – also etwa wann sie sich verschiedene Zwerggalaxien einverleibt hat. Es fanden sich sogar deutliche Hinweise, dass eine nahe Passage einer solchen Zwerggalaxie die Entstehung unserer Sonne vor zirka 4,5 Milliarden Jahren ausgelöst hat. Dies ist nur ein Beispiel. Gaias Ergebnisse, die ja für jeden frei zugänglich sind, bringen praktisch alle Forschungsgebiete der Astrophysik voran. Pro Tag erscheinen rund fünf wissenschaftliche Veröffentlichungen auf der Basis von Gaia-Daten, und zwar zu den verschiedensten Gebieten der Astronomie und Astrophysik. Einige Forschungsarbeiten benutzen nur einen Zahlenwert, etwa die Entfernung eines Sterns, in anderen werden Millionen von Daten für neue Erkenntnisse benutzt.
Wie bedeutend ist das für die derzeitige Entwicklung in der Astronomie?
Gaia funktioniert unglaublich gut. Nicht nur die schiere Anzahl an vermessenen Sternen, sondern auch die Qualität der Daten übertrifft alle bisherigen vergleichbaren Sternkataloge. Ein Beispiel für die Genauigkeit und Sehschärfe von Gaia: Die Kameras könnten eine Kerze in 30 000 Kilometern Entfernung leuchten sehen. Und wenn ein helles Licht auf der Oberfläche des Mondes – den Gaia aber in Wirklichkeit nicht anvisieren kann – um vier Zentimeter verschoben würde, ließe sich das auch nachweisen.
Gab es auch schon Probleme während der Mission?
In der Tat läuft bei so komplexen Missionen nicht immer alles wie geplant. So schwingt zum Beispiel die Blickrichtung von Gaias beiden Teleskopen stärker hin und her als gedacht. Im Lauf der Jahre versteht man aber Gaias Messinstrumente immer besser und kann von einer Datenveröffentlichung zur nächsten viele Effekte ausgleichen und die Präzision noch einmal erhöhen.
Was war für Sie selbst die größte Überraschung?
Am meisten hat mich erstaunt, dass sich mit den Daten von Gaia auch Asteroseismologie machen lässt. Bei diesem relativ jungen Forschungsgebiet geht es darum, die Schwingungen von Sternen zu analysieren, um daraus etwas über den inneren Aufbau von Sternen zu lernen – ähnlich wie man aus seismischen Messungen auf der Erde etwas über ihr Inneres lernt.
Und welche anderen Himmelsobjekte als Sterne wurden mit Gaia vermessen?
Wir haben jetzt mit Gaia auch die Umlaufbahnen von rund 150 000 Asteroiden in unserem Sonnensystem bestimmt. Und für 60 000 Asteroiden hat Gaia hochwertige Spektren aufgenommen. Das sind acht Mal mehr, als bislang von irdischen Teleskopen gewonnen werden konnten. Aus dem Reflexionsvermögen der Asteroiden kann man einiges über deren Mineralogie erfahren – also über ihre Zusammensetzung an der Oberfläche. Darüber hinaus enthält Gaia DR3 noch große Spezialkataloge zu veränderlichen Sternen, Doppelsternen, Galaxien und Quasaren. Wir dürfen gespannt sein, was findige Forscherinnen und Forscher mit all diesen Daten nun anstellen werden. Denn der dritte Datensatz von Gaia ist eine riesige astronomische Schatzkiste, die die Wissenschaftler nun nutzen können.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/teleskope-und-satelliten/gaia-eine-riesige-astronomische-schatzkiste/