Beobachten mit dem VLT – nachts in Chile…
Dirk Lorenzen
In der Atacama-Wüste Chiles steht eines der besten astronomischen Augen Europas – das Very Large Telescope VLT. Wenn es Nacht wird in Chile, erwacht der Cerro Paranal zum Leben.
Die Sonne brennt gnadenlos vom tiefblauen Himmel, die Landschaft erinnert an Aufnahmen vom Planeten Mars: Ockerfarbene, sanft geschwungene Hügel übersät von Gesteinsbrocken, kein Strauch, kein Halm – Wüste so weit das Auge reicht. Die Atacama im Norden Chiles ist gewiss kein gastlicher Ort zum Leben – aber in dieser Wüste ist der gut 2600 Meter hohe Berg Cerro Paranal dem Himmel ganz nahe…
„Den ersten Eindruck von dem Berg, den man von hier hat ist, dass man diese vier Kuppeln sieht, es sind ja gar keine Kuppeln mehr, es sind vier fast schon Skulpturen, Strukturen, die da oben stehen“, erklärt Bruno Leibundgut, Astronom bei der Europäischen Südsternwarte ESO. Viele Nächte lang hat er die Teleskope auf Paranal benutzt, denn nirgendwo sonst ist die Luft ruhiger, nirgends ist es klarer und trockener als hier: Die Atacama-Wüste ist das astronomische Paradies auf Erden.
Vier 8-Meter-Teleskope blicken ins All
Auf dem Cerro Paranal thront das Very Large Telescope, das „sehr große Teleskop“. Das VLT ist eine Sternwarte, die im wesentlichen aus vier großen Spiegelteleskopen besteht. Das VLT wird von ESO betrieben, der großen europäischen Astronomie-Organisation. Bruno Leibundgut staunt auf dem Gipfelplateau über die atemberaubende Kulisse der vier 30 Meter aufragenden Teleskopgebäude: „Hier stehen wir jetzt zwischen diesen Kolossen. Man sieht die sich drehende Struktur, die mit silbrigem Isolationsmaterial abgedeckt ist. Auf der einen Seite steht so ein Riesenviereck da raus: Das lässt sich öffnen und dann sieht das Teleskop heraus.“
Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang nimmt die Hektik auf dem Berg zu. Die Instrumente müssen „nachtfertig“ gemacht werden. Das Teleskop steht senkrecht im tagsüber klimatisierten Gebäude. Es ragt gut zwanzig Meter auf und reicht fast bis an die Decke. Das Teleskop ist eine ganz offene Struktur aus dicken Stahlrohren. Es gibt keinen Tubus, also kein Rohr, durch das das Licht auf den Spiegel fällt. Das Teleskopgerüst wird links und rechts von zwei gut zwölf Meter großen blau gestrichenen Montierungen gehalten. Plötzlich setzt sich der Koloss in Bewegung – völlig lautlos! Das Teleskop dreht sich wie ein riesiges Karussell.
„Das Teleskop wird jetzt bei noch geschlossener Kuppel in eine Position gebracht, sodass es von der Sonne abgewandt ist in dem Moment, wenn die Türen auf gehen“, erklärt ESO-Ingenieur Gerhard Hüdepohl, der in dieser Nacht für ein Teleskop verantwortlich ist. „Denn wir öffnen noch etwas vor Sonnenuntergang und es ist nicht besonders gut, wenn Sonnenlicht direkt auf das Teleskop oder insbesondere auf den Spiegel fällt. Um das zu vermeiden bringen wir das Teleskop jetzt in eine besondere Start-Up-Position.“
Moderne Teleskope sind gekühlt und belüftet…
Gerhard Hüdepohl, der mehrere Jahre seines Lebens unmittelbar auf Paranal verbracht hat, ist die Freude über die Faszination seines Besuchers anzumerken. „Ja, ja, die 400 Tonnen, die sich hier fast lautlos bewegen, das ist also auch für mich immer wieder eindrucksvoll, obwohl ich schon viele Jahre hier bin.“ Das Teleskop ist deshalb so leise, weil es sich völlig schwingungs- und vibrationsfrei bewegen muss – sonst wäre es nicht mit der erforderlichen Präzision auf die Himmelsobjekte auszurichten.
Die Öffnungsprozedur läuft nun völlig automatisch ab – und Gerhard Hüdepohl genießt dabei gerne die Aussicht vom oberen Rundgang an der Innenseite der Kuppelwand. Beim Gang die Treppe hoch hat die Kuppel ihre Position erreicht und bleibt stehen. Jetzt bewegt sich wieder das Teleskop – es beginnt sich zu neigen. „Von hier hat man jetzt also einen Blick auf das Teleskop und auf den Acht-Meter-Spiegel. Das Teleskop wird jetzt geneigt und dann werden sich in ein paar Minuten die großen Beobachtungstore nach draußen öffnen.“
Fast scheint es, als verneige sich das Teleskop vor „seinem“ Ingenieur. Während es sich neigt, zeigen sich im 8,20 Meter großen Spiegel immer andere Details der Kuppeldecke. Durch diese sich laufend verändernden Spiegelbilder hat der ganze Vorgang eine unglaubliche Dynamik – auch wenn das Neigen des Teleskops ganz langsam vor sich geht und mehrere Minuten dauert. Schließlich weist das riesige Teleskop fast genau auf den Betrachter, der Blick ist frei auf den makellos glänzenden Spiegel – und der obere Rand des Teleskops ist zum Greifen nah. Plötzlich dröhnt es gewaltig:
„So, jetzt gehen hier die großen Lüftungstore auf, an den Seiten, man hört es deutlich. Und man hat jetzt einen fantastischen Blick über die Atacama-Wüste bis runter zum Pazifik, der im Moment allerdings von Wolken bedeckt ist.“ Die letzten Sonnenstrahlen tauchen die ganze Szenerie in eine faszinierende Lichtstimmung. Dazu kommt die frische Brise, die jetzt ganz ordentlich durch den Dom pfeift.
Eine Nacht im Astro-Kloster in der Wüste
Auch die anderen drei Teleskope sind alle schon geöffnet und warten darauf, dass sich die Erde noch ein wenig weiter dreht, so dass die Sonne unter dem Horizont verschwindet und Platz für die Sterne macht. Innerhalb einer Stunde senkt sich perfekte Dunkelheit über Paranal.
Die Astronomen arbeiten aber nicht direkt an den Teleskopen, sondern im Kontrollraum, der sich etwas unterhalb des Gipfelplateaus an den Berghang duckt. Im gut dreißig Meter langen und zwölf Meter breiten Raum sind mehrere Bereiche abgeteilt, ein jeder voller Computer. Von hier steuern die Astronomen die Teleskope und Messinstrumente – hier prüfen sie die eingehenden Daten und beschließen die nächsten Schritte. Der in grelles Neonlicht getauchte Raum ist mit dicken Rollladen abgedunkelt, damit ja kein irdisches Kunstlicht die kostbaren Beobachtungen stört.
Praktisch aller Fortschritt in der astronomischen Wissenschaft hat irgendwann mal mit einer klaren Nacht an einem Teleskop begonnen. Wer, wie Bruno Leibundgut, „nach den Sternen greifen will“, wer wirklich tief ins All blicken will, wer unmittelbar sehen will, was da draußen passiert, der muss auf Berge wie Paranal reisen. „Das ist wirklich für mich in der beobachtenden Astronomie etwas vom Schönsten. Die Konzentration finde ich sonst nirgends. Ich habe Sternwarten auch schon mit Klostern verglichen. Man richtet sein ganzes Leben – in dem Fall nur für ein paar Tage – für etwas ganz Bestimmtes ein und alles andere wird sekundär. Das sind einmalige Erlebnisse."
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/teleskope-und-satelliten/optische-teleskope/very-large-telescope/beobachten-am-vlt/