Der Kuipergürtel
Michael Büker
Das Bild des äußeren Sonnensystems hat sich in den vergangenen einhundert Jahren mehrmals grundlegend geändert, zuletzt vor allem seit den in den 1990er-Jahren. Im Jahr 2006 wurde Pluto als Zwergplanet klassifiziert und gilt seitdem nicht mehr als der neunte Planet unseres Sonnensystems. Dieser Definition waren neue Enteckungen in der Region jenseits des Planeten Neptun vorausgegangen.
Die wichtigsten Himmelskörper unseres Sonnensystems werden oft nach größer werdendem Abstand von der Sonne aufgezählt. Auf die Gesteinsplaneten Merkur, Venus, Erde und Mars folgt der Asteroidengürtel, und schließlich die vier Gasplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Lange Zeit galt Pluto als neunter Planet, doch heute wird er nur als ein Teil einer ganzen Region namens Kuipergürtel gesehen.
Um die Entfernungen von Planeten oder Regionen im Sonnensystem zu beschreiben, wird meist die sogenannte „Astronomische Einheiten“ benutzt. Dabei entspricht der mittlere Abstand der Erde von der Sonne – etwa 150 Millionen Kilometer – genau einer Astronomischen Einheit. Jupiter umkreist die Sonne in einem Abstand von fünf bis fünfeinhalb Astronomischen Einheiten, und der äußerste Planet Neptun ist etwa 30 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt.
Hermann Böhnhardt vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen beschreibt die Lage des Kuipergürtels im Sonnensystem:
„Der Kuipergürtel ist Teil des Planetensystems, es ist der äußere Rand des Bereichs, in dem sich die Planeten aufhalten. Er befindet sich in der Hauptsache zwischen etwa 39-fachem Erdabstand und 48-fachem Erdabstand. Es gibt Teile, die zum Kuipergürtel gerechnet werden, die etwas näher dran sind als diese 39 Astronomischen Einheiten, und es gibt auch einen guten Teil der weiter nach außen geht als die 48.“
Die Entdeckungsgeschichte Plutos, des ersten bekannten Kuipergürtel-Objekts, begann im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung Neptuns, die im Jahr 1846 gelang, war vorhergesagt worden: Aufgrund von Störungen in der Umlaufbahn des knapp 65 Jahre zuvor entdeckten Uranus war die Position von Neptun erfolgreich vorausberechnet worden. Als dann auch Neptuns Umlaufbahn Auffälligkeiten aufzuweisen schien, suchten Astronomen nach einem weiteren großen Planeten, der diese erklären könnte.
So wurde Pluto bei seiner Entdeckung im Jahr 1930 für einen solchen weiteren großen Planeten gehalten. Er stellte sich aber in den folgenden Jahrzehnten als wesentlich kleiner heraus als zunächst gedacht. Eine gezielte Suche nach anderen Körpern in Plutos Umgebung wurde gut 60 Jahre später in Angriff genommen.
„Die Entdeckungsserie hat bis heute knapp 1.500 solcher Körper gefunden. Davon sind übrigens gut die Hälfte bahndynamisch nicht genau bestimmt, sodass man sie nicht sicher wiederfindet nach einem Jahr. Das ist aber etwas, das glaube ich in den nächsten 5 bis 10 Jahren beseitigt wird durch Suchprogramme mit 6-Meter Teleskopen, da werden diese Objekte zurückgefunden werden. Das hat sich aus 1992 heraus langsam entwickelt – am Anfang tatsächlich mit guten Suchprogrammen an existierenden 2- bis 4-Meter-Teleskopen, die kleine Gesichtsfelder haben und deshalb auch lange suchen mussten. Inzwischen gibt es die Wide-Field-Cameras, die effizienter arbeiten und natürlich bei bewusster Suche mehr finden.“
Mühsame Entdeckungen trotz vieler Objekte
Eine Schwierigkeit bei der Erkennung von Objekten im äußeren Sonnensystem ist, dass sie besonders lange für eine Umrundung der Sonne brauchen. Sie bewegen sich für einen Beobachter auf der Erde nur sehr langsam über den Himmel und sind teilweise nicht ohne Weiteres von Sternen im Hintergrund zu unterscheiden.
„Pluto selbst, das definiert so ungefähr den Rand des Planetensystems mit einer Umlaufzeit von etwas mehr als 200 Jahren, 230 oder 240 Jahre, in der Größenordnung – das ist so die typische Umlaufzeit. Das heißt, Pluto, 1930 entdeckt, hat seit seiner Entdeckung noch keinen vollen Umlauf zurückgelegt – das wird noch weit mehr als 100 Jahre dauern. Und diese Umlaufzeit steigt natürlich an, je weiter die Objekte dann außerhalb des Pluto-Orbits sind.“
Reicht die Beobachtungszeit nicht aus, um seine Umlaufbahn genau zu bestimmen, kann es deshalb schwierig sein, ein Objekt später am Himmel wiederzufinden. Die genaue Vermessung der Umlaufbahnen im Kuipergürtel ist deshalb eine anstehende Aufgabe für die Astronomie.
Außerdem lassen sich diese Objekte am günstigsten mit besonders großen Teleskopen finden, da sie sehr lichtschwach sind. Die Menge an Licht, die ein Objekt von der Sonne zu uns reflektiert, hängt von der vierten Potenz seines Abstands zu uns ab. Manche Himmelskörper in Plutos Umgebung sind zwar einige hundert Kilometer groß – ähnlich wie die größten Asteroiden im inneren Sonnensystem – doch aufgrund ihrer Entfernung erreicht uns nur viele tausend Mal schwächeres reflektiertes Sonnenlicht als aus dem Asteroidengürtel.
Weil die Menge des reflektierten Sonnenlichts außerdem auch von der Größe eines Körpers abhängt, konnten bisher wahrscheinlich nur die größten Objekte des Kuipergürtels beobachtet werden – solche mit einem Radius von 100 Kilometern oder mehr. Wie viele Körper es im Kuipergürtel insgesamt gibt, kann deshalb nur geschätzt werden:
„Wenn Sie jetzt rechnen: 50 Kilometer Radius, wie viele Objekte könnte es da geben? Das kann man extrapolieren aus der Größenverteilung, die man von den größeren Objekten kennt. Wenn man annimmt, es setzt sich so fort, dann kommt man so in die Größenordnung von 300.000, die bis 50 Kilometer existieren. Bis 20 Kilometer Radius sind Sie bei 3 Millionen, in der Größenordnung – also, es steigt sehr schnell an, wobei der Radius natürlich deutlich abnimmt.“
Pluto: Planet oder Zwergplanet?
Um das Jahr 2005 herum wurden gleich mehrere Objekte im Kuipergürtel entdeckt, die eine mit Pluto vergleichbare Größe hatten. Neben den über 1.000 Kilometer durchmessenden Objekten Makemake und Haumea erregte vor allem Eris die Aufmerksamkeit der Astronomen. Eris ist mit einem Durchmesser von über 2.300 Kilometern etwa genauso groß und sogar schwerer als Pluto. 2006 führte eine Abstimmung der Internationalen Astronomischen Union schließlich zu einer Definition für Planeten, nach der weder Pluto noch Eris zu dieser Kategorie zählten und sich die Zahl der Planeten im Sonnensystem wieder auf acht reduzierte.
Ob Planet oder nicht – als im Jahr 2005 die Raumsonde New Horizons auf die etwa zehn Jahre lange Reise in den Kuipergürtel geschickt wurde, war Pluto ihr erstes Ziel, und wurde der erste jemals aus der Nähe beobachte Körper des Kuipergürtels. Forscher werten die Daten des Vorbeiflugs vom Juli 2015 aktuell weiter aus.
„Ich erwarte eigentlich, dass New Horizons ein erstes detaillierteres Bild von einem Zwergplaneten in dieser Umgebung des Kuipergürtels liefert. Pluto ist ja nicht der einzige Vertreter eines Zwergplaneten im Kuipergürtel. Man muss natürlich gewisse Charakteristiken als individuell annehmen, aber ich glaube das wird das Hauptresultat sein: Die Beschreibung eines Zwergplaneten im äußeren Planetensystem.“
Gewisse Eigenschaften haben einige der Objekte im Kuipergürtel sogar mit den großen Planeten gemein – etwa, dass sie Monde haben. Pluto hat neben vier kleinen Begleitern den für seine Verhältnisse außergewöhnlich großen Mond Charon, mit dem er um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreist. Von etwa fünfzig weiteren Kuipergürtel-Objekten ist zudem bekannt, dass sie Monde haben, etwa von Eris mit seinem Begleiter Dysnomia.
„Und Atmosphäre – ja, da haben wir bisher nur ein Beispiel dafür, nämlich Pluto selbst hat eine Atmosphäre, wahrscheinlich temporärer Natur. Das heißt, eine Atmosphäre, die jetzt, da er relativ nahe an der Sonne ist, auftritt, und möglicherweise wenn er dann im sonnenfernen Punkt seiner Bahn ist, wieder ausfrieren wird, das heißt sich als Eis an der Oberfläche niederschlagen wird. Da muss man ein bisschen Geduld haben, das kann man vielleicht beobachten; im Laufe eines Lebens könnte sich das herausstellen.“
Wasser und Eise
Eine Eigenschaft, die auch etwas über die Entwicklung der Objekte im Kuipergürtel verrät, ist ihre Dichte. Bisherige Beobachtungen haben gezeigt, dass die kleineren Körper eher ein Masse-Volumen-Verhältnis von rund einem Gramm pro Kubikzentimeter aufweisen – das entspricht etwa der Dichte von flüssigem Wasser. Größere Körper zeigen dagegen bis zu doppelt so hohe Dichten.
„Da steht wahrscheinlich dahinter, dass die größeren Körper so eine Art Eigenleben in ihrem Inneren erzeugen konnten, das die kleinen Körper nicht erreichen konnten, und dadurch also kompakter wurden. Das Eigenleben, von dem man zum Beispiel bei Pluto spricht ist, dass er wahrscheinlich in seinem Inneren nicht gleichmäßig durchmischt ist, sondern ähnlich wie die Erde einen Kern besitzt, der schwereres Material enthält, und dann zur Oberfläche hin immer leichter wird. Das ist eine Vermutung im Augenblick, gestützt auf bestimmten Belegen oder Hinweisen, die wir haben.“
Das Material, aus dem die Objekte im Kuipergürtel bestehen, wird häufig als „Eise“ zusammengefasst – gemeint sind Stoffe, die bei höheren Temperaturen flüssig oder sogar flüchtig wären, im kalten äußeren Sonnensystem aber in fester Form vorliegen. An der Oberfläche von Pluto ist etwa Stickstoffeis sehr häufig; zudem gibt es Kohlendioxid- und Kohlenmonoxideis. Zu geringen Anteilen finden sich außerdem Stoffe am Übergang zwischen organischer und anorganischer Chemie, wie etwa Methan oder Methanol.
Sehr häufig ist vor allem, auf Pluto wie im restlichen Kuipergürtel, gewöhnliches Wassereis – für Hermann Böhnhardt allerdings keine Überraschung:
„Man sollte nie vergessen: Das häufigste Molekül im Weltall insgesamt – außer H2 – ist Wasser. Deswegen sollte es einen nicht überraschen, dass Wasser so oft genannt wird. Das ist einfach überall da.“
Möglicherweise lässt sich der Kuipergürtel aber nicht nur vor Ort im äußeren Sonnensystem untersuchen, sondern auch in weitaus größerer Nähe zur Erde: So gibt es Hinweise darauf, dass die Schwerkraft der großen Planeten Objekte aus dem Kuipergürtel durch das Sonnensystem transportieren könnte.
„Gestreut von Neptun, weitergereicht an Uranus, der kann dann wieder streuen – vielleicht nach außen, oder nach innen – und so geht es sozusagen in einer Kette durch die großen Planeten, bis Jupiter, der dann also die Endauswahl trifft und sie entweder als Komet rekrutiert oder in die Sonne wirft oder sehr weit hinaus katapultiert.“
Trifft diese Theorie zu, so könnte die Untersuchung erdnaher Kometen – wie die aktuelle Rosetta-Philae-Mission zum Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko – gleichzeitig auch helfen, den Kuipergürtel zu verstehen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/von-meteoriten-bis-kleinplaneten/kuiperguertel/