„Die Komplexität verringert sich von selbst“
Dirk Eidemüller
Als die Erde vor etwa 4,6 Milliarden Jahren entstand, war sie noch unbewohnt. Erst im Lauf der Zeit bildeten sich aus der sogenannten Ursuppe – einer Mixtur aus Wasser und zufällig verteilten Atomen und Molekülen – die ersten Lebensformen. Doch wie genau dieser Prozess ablief, ist bislang unklar. Im Interview mit Welt der Physik berichtet der Biophysiker Dieter Braun von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wie sich diese Frage mit neuen Experimenten zwischen Physik, Chemie und Biologie erforschen lässt.
Welt der Physik: Sie erforschen den Ursprung des Lebens. Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich genau?
Dieter Braun: Das große Rätsel besteht darin, dass die Entstehung des Lebens so unglaublich unwahrscheinlich erscheint. Wenn man sich ansieht, wie komplex schon die einfachsten Lebensformen sind – also wie viele genetische Informationen etwa Algen und Einzeller enthalten –, dann können diese Lebensformen nicht einfach so aus der Ursuppe entstanden sein. Also ist es entweder ein gigantischer Zufall, dass auf der Erde Leben entstanden ist – vielleicht sind wir sogar allein im Weltall. Oder wir haben die frühen Prozesse noch nicht verstanden, die die Entstehung von Leben deutlich wahrscheinlicher machen als gedacht.
Wie könnten solche Prozesse aussehen?
Es müssen auf jeden Fall abiotische Prozesse sein, das heißt, diese Prozesse müssen ohne biologische Moleküle und Proteine auskommen. Denn diese werden ja erst von Lebewesen erzeugt. Was es aber in der Ursuppe schon gab, sind bestimmte organische Moleküle wie etwa Aminosäuren oder Nukleotide – die Bausteine von DNA und RNA. Solche Moleküle untersuchen wir und andere Forschungsgruppen. Wir wollen herausfinden, wie sich diese einfachen organischen Moleküle zu komplexeren zusammensetzen. Wenn diese Verbindungen irgendwie Prozesse wie Selektion, Mutation und sogar Replikation durchführen können, dann hätte man einen möglichen Weg entdeckt, wie sich Leben aus Unbelebtem entwickeln kann.
Wie setzen sie das experimentell um?
Wir haben bestimmte Oligomere – das sind Moleküle aus mehreren gleichen oder ähnlichen Einheiten – miteinander reagieren lassen. Speziell interessieren wir uns für Moleküle aus zwölf Nukleotiden – sogenannte Dodekamere. Wir nutzen allerdings nicht alle vier in der Natur vorkommenden Nukleotide, sondern zunächst nur zwei. In unseren Experimenten schütten wir eine Mischung solcher Oligomere aus Nukleotiden in einen Reaktionsbehälter, der immer wieder aufgewärmt und abgekühlt wird, wodurch sich die Moleküle miteinander verbinden. Um diese langwierigen Prozesse, die in der Natur Jahrmillionen gedauert haben, zu beschleunigen, setzen wir außerdem einen biologischen Katalysator ein. Diesen gab es in der Urzeit zwar nicht, aber er verändert die Ergebnisse nicht, sondern beschleunigt nur die chemischen Prozesse.
Und wie reagieren die Oligomere miteinander?
Wir haben bei der Analyse interessante Muster festgestellt. So haben sich die Oligomere zu einem überraschend großen Teil zu langkettigen Molekülen miteinander verbunden. Diejenigen Dodekamere hingegen, deren Anfang und Ende zusammenpassen, haben sich mit sich selbst verklebt und sind aus dem Reaktionsgefüge ausgeschieden. Bei den langkettigen Oligomeren wiederum haben wir beobachtet, dass sie an einigen Stellen vornehmlich ein bestimmtes Nukleotid aufweisen, während an anderen Stellen Muster entstehen, bei denen sich die beiden Nukleotide abwechseln – wie bei einem Zebrastreifen.
Was sagt dieses Ergebnis über die Entstehung des Lebens aus?
Das Bedeutende ist, dass sich bereits bei solchen einfachen physikalisch-chemischen Prozessen die Komplexität von selbst verringert und sich bestimmte Strukturen zeigen. Spezielle Oligomere werden sozusagen vorselektiert. Das macht es sehr viel wahrscheinlicher, dass irgendwann weitere Mechanismen der Selektion greifen – bis irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem sich solche Moleküle replizieren und mutieren können. Bis dahin ist es zwar noch ein weiter Weg. Aber Experimente wie das unsere zeigen Wege auf, wie sich die gigantische Komplexität der Ursuppe reduziert – und damit eben auch die gigantische Unwahrscheinlichkeit, dass aus diesem Molekülgemisch erste Lebensformen entstehen konnten.
Entstehung des Lebens (Trailer)
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/die-komplexitaet-verringert-sich-von-selbst/