Der Beruf Physiker/Physikerin
Stefan Jorda
Physiker – sind das nicht die Typen mit den Holzfällerhemden und den Vollbärten? Oder die smarten Überflieger und Alleskönner, die auf Partys immer vom Urknall faseln? Klischees gibt es wahrlich genug. Dabei sind die Zeiten längst vorbei, wo Physikerinnen und Physiker nur im Labor anzutreffen waren oder geniale Theorien ausgebrütet haben.
Doch was genau machen Physiker eigentlich nach dem Studium oder der Promotion? Die Antworten finden sich heutzutage in Banken und Versicherungen, in Anwaltskanzleien und Softwarefirmen, in Optik- und Halbleiterfirmen, in Unternehmensberatungen, in der Automobil- oder Energiebranche und natürlich in Forschungsinstituten – und zwar auf allen Hierarchieebenen. Einige prominente Beispiele von Physikern, die es ganz nach oben geschafft haben, sind der Siemens-Vorstand für Corporate Technology, Hermann Requardt, der Vorstandssprecher der SAP AG, Henning Kagermann, seines Zeichens habilitierter theoretischer Physiker, oder der ehemalige Deutschland-Chef von McKinsey, Jürgen Kluge.
Doch bevor ein Absolvent eine solche Karriere machen kann, heißt es nach dem Diplom, dem Master oder der Promotion Abschied nehmen von der Universität – ausgenommen natürlich diejenigen, die in der Forschung bleiben wollen, in der Regel mit dem Ziel, Professor zu werden. Während für einen Maschinenbauingenieur, eine Elektrotechnikerin oder einen Bauingenieur der Berufseinstieg in einem Unternehmen noch vergleichsweise klar vorgezeichnet ist, sieht sich ein Physikabsolvent heute mit einer Vielzahl an Möglichkeiten konfrontiert, die ihm je nach individuellen Kenntnissen und Neigungen offen stehen. Dies hängt primär damit zusammen, dass es im Gegensatz zum Maschinenbau oder der Elektrotechnik für Physiker keine physikalische Industrie im engeren Sinne gibt.
Andererseits ist die Physik die Grundlage der meisten technischen Disziplinen, und daher gelten Physikerinnen und Physiker als Generalisten unter den Naturwissenschaftlern, mit entsprechend vielseitigen Tätigkeitsfeldern – von klassischen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben in Technologieunternehmen bis hin zu Unternehmensberatungen und Finanzdienstleistern. Hierbei kommt den Physikern ihre Fähigkeit zugute, ihre im Studium erworbenen analytischen Fähigkeiten und ihre physikalische Denkweise systematisch auf die Lösung neuer Probleme anzuwenden. „Ich schätze an Physikern, dass sie in der Lage sind zu denken. Nicht wurschteln“ hat diese Eigenschaft ein Geschäftsführer eines Consulting-Unternehmens beschrieben. Und der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar bringt es auf den Punkt: „Wir sind die intellektuellen Allzweckwaffen.“
Physikerinnen und Physiker kommen daher auch häufig zum Zuge, wenn es für neue Technologien noch gar keine speziellen Studiengänge und entsprechend ausgebildete Fachkräfte gibt. Dieser Vorteil des Generalisten birgt in Zeiten schlechter Konjunktur aber auch die Gefahr, dass Physiker auf dem Arbeitsmarkt leer ausgehen, weil ihnen nachgesagt wird, von allem ein bisschen, aber nichts richtig zu können. Hinzu kommt, dass Physikern meist zurecht eine gewisse Praxisferne nachgesagt wird. Die wenigsten Absolventen haben eine Vorstellung davon, wie ein am wirtschaftlichen Erfolg orientiertes Unternehmen funktioniert, in dem die Vermarktung von Produkten im Vordergrund steht. „Die Stärke der Physiker liegt in Forschung und Entwicklung, durch neue Ansätze und Konzepte vorgegebene Parameter zu erreichen. Dass daraus ein Produkt wird, garantieren die Ingenieure.“, sagt dazu ein Geschäftsführer aus der Laserbranche.
Nachdem sich Anfang der 90er-Jahre der Arbeitsmarkt für Physiker verdüstert hatte, hat sich das Blatt inzwischen wieder gewendet. Seit 1998 gibt es praktisch keine arbeitslosen Physikabsolventen mehr. Aber nicht nur bei den Absolventen, sondern auch generell hat sich der Arbeitsmarkt für Physiker deutlich entspannt. Von einem Maximum bei rund 4500 (Uni und FH) im Jahr 1994 ist die Anzahl der Arbeitslosen bis zur Jahrtausendwende auf ca. 2500 gefallen. Nach dem Platzen der „Dot-com-Blase“ stieg die Zahl kurzzeitig wieder auf rund 3200 an, seit dem Jahr 2004 ist sie aber wieder drastisch gesunken auf inzwischen rund 1300. Von dieser Entspannung profitieren sämtliche Altersgruppen, insbesondere auch die über 45-Jährigen. Die Kehrtwende am Arbeitsmarkt zeigt sich auch darin, dass die Anzahl von Stellenanzeigen, in denen Physikerinnen und Physiker gesucht werden, steigt. Insgesamt sind heute in Deutschland circa 80 000 Physikerinnen und Physiker erwerbstätig.
Branchenspektrum
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Anteil der Physiker, die in Forschung und Lehre im öffentlichen Dienst an Universitäten, anderen Forschungseinrichtungen wie Max-Planck- oder Fraunhofer-Instituten sowie an Schulen oder Behörden beschäftigt sind, kontinuierlich zurück gegangen: Auf diesen Bereich entfielen 1988 noch 65 Prozent, während nur 35 Prozent in Industrie und Wirtschaft beschäftigt waren. Für den Absolventenjahrgang 1997 zeigt eine Studie der HochschulInformations System GmbH (HIS) hingegen, dass der Anteil der Physiker in öffentlicher Forschung und Lehre auf 28 Prozent gesunken war, während 31 Prozent der Absolventen in einem Industrieunternehmen und 39 Prozent in einem Dienstleistungsunternehmen beschäftigt waren. Die in Industrie und Wirtschaft beschäftigten Physikerinnen und Physiker teilen sich auf ein breites Branchenspektrum auf, wie die im Jahr 2001 von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft durchgeführte Befragung ihrer Mitglieder ergab. Diese Aufteilung ist keinesfalls statisch, sondern folgt den Technologieschüben und Konjunkturzyklen. So spielen zum Beispiel Kerntechnik oder Raumfahrttechnik heute keine große Rolle mehr für den Arbeitsmarkt von Physikern, während die Software- und die Halbleiterindustrie an Bedeutung deutlich gewonnen haben, wie ein Blick auf die altersabhängige Verteilung eindrucksvoll zeigt: Demnach nimmt die Softwarebranche bei den unter 35-Jährigen sogar einen Anteil von 25 Prozent ein, die Halbleiterindustrie von 16 Prozent. Leider gibt es keine aktuellere Erhebung über das Branchenspektrum der Physiker in Industrie und Wirtschaft. Zu den Berufsfeldern, deren Bedeutung in den letzten Jahren gewachsen ist, gehören zum Beispiel auch die Photovoltaik oder der Energiehandel. Darüber hinaus findet man Physikerinnen und Physiker aber auch in einer Vielzahl anderer Bereiche, angefangen von Politikernwie Angela Merkel oder Oskar Lafontaine bis hin zum Schriftsteller Ralf Bönt oder dem Künstler und Fotograf Jochen Viehoff.
Aber nicht nur die Branchen variieren stark, sondern auch die Tätigkeitsbereiche innerhalb der Branchen: Zwar hat fast jeder zweite der in der Wirtschaft beschäftigten Physiker mit Entwicklung und Technologie zu tun, zu den Tätigkeiten von Physikern gehören aber unter anderem auch industrielle Forschung, Produktion und Fertigung, Unternehmensleitung, Qualitätskontrolle, Verkauf/Vertrieb und Marketing. Demnach stehen Physikern auch innerhalb einer ausgewählten Branche die verschiedensten Möglichkeiten offen, Karriere eingeschlossen: 36 Prozent der Physiker waren fünf Jahre nach ihrem Diplom Angestellte mit Leitungsfunktion.
Gehälter
Das Einstiegsgehalt eines Physikers in Industrie und Wirtschaft hängt stark vom persönlichen Werdegang und den individuellen Kenntnissen und Erfahrungen ab, die ein Bewerber mitbringt. Wenn sich also ein Bewerber während der Promotion zum Beispiel mit einem speziellen Lasertyp beschäftigt hat und sich nun bei einer Firma bewirbt, die genau diese Laser fertigt, so werden sich diese Fachkenntnisse im Geldbeutel bemerkbar machen. Gleiches gilt zum Beispiel auch für chinesische Sprachkenntnisse und ein Unternehmen, das Geschäftsbeziehungen mit China unterhält. Auch die Gehaltsentwicklung ist individuell sehr verschieden. Fünf Jahre nach ihrem Examen verdienten die Absolventen des Jahrgangs 1997 im Durchschnitt 52 500 Euro. Etwas höhere Einkommen als Physiker erzielen Elektrotechniker, Maschinenbauingenieure und Informatiker, geringere Einkommen erhalten Chemiker und Biologen.
Die Vielfalt der möglichen Tätigkeitsfelder von Physikerinnen und Physikern kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Anforderungen an die während des Studiums erworbenen fachspezifischen Kenntnisse sehr unterschiedlich sind. So geben immerhin 41 Prozent der beschäftigen Physiker (HIS-Studie) an, dass sie hinsichtlich ihrer fachlichen Qualifikation nicht adäquat beschäftigt sind – dies sind vor allem Physiker in der Softwarebranche, Berater und generell Physiker in Leitungsfunktionen, für deren Tätigkeit die fachspezifischen Kenntnisse eher von untergeordneter Bedeutung sind. Dieser Wert ist bei den Physikern mit Abstand am höchsten; bei Mathematikern und Biologen beträgt er 30 Prozent, bei Chemikern und Ingenieuren um die 30 Prozent. Aber auch Physiker in technologienahen Tätigkeiten können sich nicht auf ihren Fachkenntnissen ausruhen: „Ein Physiker, der bei uns Karriere macht, arbeitet nicht mehr als Physiker; er muss sich mental halbwegs zum Ingenieur weiterentwickeln.“, sagt dazu ein Abteilungsleiter bei Volkswagen. 82 Prozent der Physiker geben aber an, dass sie hinsichtlich des Niveaus der Arbeitsaufgaben adäquat beschäftigt sind, 74 Prozent bejahen dies hinsichtlich der beruflichen Position.
Kompetenzen
Wenn die fachspezifischen Kenntnisse für so viele Physiker von untergeordneter Bedeutung sind, stellt sich die Frage, ob sie für ihre ausgeübte Tätigkeit überhaupt Physik studieren mussten. Hierzu gibt die europäische REFLEX-Studie Auskunft, die im Jahr 2005 die Absolventen des Jahres 2000 befragt hat. Demnach mussten nur 19 Prozent der befragten Physiker tatsächlich Physik studieren, während 61 Prozent angaben, dass sie ihre Tätigkeit auch mit dem Studium einer verwandten Fachrichtung ausüben könnten. Bei immerhin 13 Prozent hätte eine völlig andere Fachrichtung besser gepasst. Wenn es nicht um die Fachkenntnisse geht, welche anderen Kompetenzen haben die Physiker dann erworben? Wenig überraschend, nennen Physiker mit deutlichem Abstand „analytisches Denken“ (nur die Mathematiker nennen diese Kompetenz noch häufiger, Absolventen anderer Fachrichtungen deutlich seltener), gefolgt von der Fähigkeit, sich schnell neues Wissen anzueignen. Dieses Ergebnis unterstreicht ein Recruiter der Deutschen Bank mit dem Worten: „Für das Investmentbanking qualifiziert den Physiker vor allem seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu durchdringen und analytisch zu denken, das wird unserer Überzeugung nach durch das Physik-Studium stärker gefördert als durch irgend ein anderes Studium.“ Und noch eine andere Eigenschaft wird Physikern nachgesagt: Frustrationstoleranz! Markus Dilger, ehemaliger Forschungschef von Infineon und heute Geschäftsführer bei Carl Zeiss NTS GmbH, sagt dazu: „Wer am Kryostaten gestanden und nachts dieses Helium eingefüllt hat, und dann ist das ganze Ding abgeschmiert und die Messung tut nicht ... Wer das durchgestanden hat, der hat eigentlich alles, was er braucht.“
Unabhängig davon, ob sie eine physiknahe oder eine physikferne Tätigkeit ausüben, sind drei Viertel der befragten Physiker mit ihrer Tätigkeit, den Arbeitsbedingungen, dem Arbeitsklima und den Gestaltungsmöglichkeiten zufrieden. Und rückblickend gaben immerhin 81 Prozent der befragten Physiker an, dass sie erneut Physik studieren würden.
Literaturtipp
Big Business und Big Bang, Berufs- und Studienführer Physik, von Max Rauner und Stefan Jorda, 2. erweiterte Auflage, Wiley-VCH Weinheim (2008)
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/beruf/beruf/