Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen?
Franziska Konitzer
In einer Experimentierhalle des größten Untergrundlabors der Welt – tief unter dem Gran-Sasso-Massiv in Italien – steht GERDA, das GERmanium Detector Array. Umgeben von einem Wassertank und einer Kühlkammer hängen dort dosenförmige Behälter gefüllt mit insgesamt 36 Kilogramm des Isotops Germanium-76. Physiker wollen mit diesem Experiment den sogenannten neutrinolosen doppelten Betazerfall beobachten und damit überprüfen, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind.
Bisher ist noch ungeklärt, ob es den gesuchten Zerfall überhaupt gibt. Seit dem Start der Phase II des Experiments im Jahr 2015 konnten die Forscher mithilfe von GERDA bestätigen, dass der neutrinolose doppelte Betazerfall extrem selten sein muss. Störeffekte durch andere radioaktive Zerfälle oder kosmische Strahlung ließen sich bei GERDA um das Zehnfache niedriger einstellen als bei allen anderen Experimenten weltweit.
Ziel ist es nun, den Detektor weiter zu vergrößern und die Masse der Germaniumkristalle schrittweise auf bis zu 200 Kilogramm zu erhöhen. Dazu werden neue Methoden und apparative Verbesserungen entwickelt, die das Entdeckungspotenzial von GERDA erheblich steigern. Ein wesentlicher Teil des Projekts besteht in der Herstellung neuer Detektoren. Das dazu benötigte Germanium wird mit großem Aufwand angereichert, um daraus hochreine Kristalle herzustellen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert diesen Verbund im Zeitraum von Juli 2017 bis Juli 2020 mit rund 2,25 Millionen Euro.
Fördersumme: 2 253 536 €
Förderzeitraum: 01.07.2017 bis 30.06.2020
Förderkennzeichen: 0516000098, 0516000124, 0516000152, 0517000001
Beteiligte Institutionen: Universität Tübingen, Technische Universität München, Technische Universität Dresden, Forschungsverbund Berlin e.V.
Projektseite: GERDA
Ein extrem seltener Teilchenzerfall könnte Forschern helfen, grundlegende Fragen zu unserem Verständnis von Materie zu beantworten. Seit 2010 betreiben sie dafür das GERmanium Detector Array, kurz GERDA, tief unter dem italienischen Gran-Sasso-Massiv. Nun soll das Experiment erweitert werden, um die Chancen bei der Suche nach dem sogenannten neutrinolosen Doppelbetazerfall zu erhöhen. Das Bundesforschungsministerium fördert diese Bemühungen im Rahmen seiner Verbundforschung.
Neutrinos sind zwar die häufigsten Teilchen im Universum. Doch die nahezu masselosen Elementarteilchen wechselwirken kaum mit Materie, was ihren Nachweis schwierig macht. Dennoch wissen Physiker inzwischen – fast 60 Jahre, nachdem man Neutrinos erstmals in Experimenten aufspürte – schon einiges über diese Teilchen, etwa dass sie in drei Sorten vorkommen und sich ineinander umwandeln können. Doch es gibt noch viele offene Fragen rund um diese Elementarteilchen. Wie viel die verschiedenen Typen von Neutrinos genau wiegen, ist beispielsweise noch unklar – und auch, ob Neutrinos möglicherweise ihre eigenen Antiteilchen sind.
Wäre dem tatsächlich so, könnte in Atomkernen – wenn auch extrem selten – ein ganz besonderer radioaktiver Zerfall auftreten: der doppelte neutrinolose Betazerfall. Beim gewöhnlichen Betazerfall zerfällt in einem Atomkern ein Neutron in ein Proton und setzt dabei ein Elektron und ein Antineutrino frei. Beim doppelten Betazerfall wandeln sich gleichzeitig zwei Neutronen in zwei Protonen um, wobei neben den beiden Elektronen auch zwei Antineutrinos entstehen. Wenn das Neutrino nun seinem Antiteilchen entspräche, könnten sich die beiden Teilchen im Innern des Kerns gewissermaßen gegenseitig aufheben und man würde nur zwei Elektronen nachweisen. Diese müssten dann über die gesamte Energie verfügen, die bei der Reaktion freigesetzt wird.
Es gibt nur ein Problem: „Es gibt keine Garantie dafür, dass es diesen Zerfall überhaupt gibt“, sagt Josef Jochum von der Universität Tübingen. Das Standardmodell der Teilchenphysik, das das Verhalten von Materie auf fundamentaler Ebene beschreibt, ist in dieser Hinsicht eindeutig: Laut dieser Theorie ist der doppelte neutrinolose Betazerfall verboten. Gäbe es ihn doch, würde dies auf neue, bislang unbekannte physikalische Gesetze hindeuten. „Man sucht deshalb händeringend nach solchen Zerfällen“, erläutert Jochum.
Der Physiker und seine Kollegen sind dem doppelten neutrinolosen Betazerfall mithilfe des GERmanium Detector Array oder kurz GERDA auf der Spur. 1400 Meter tief unter dem italienischen Gran-Sasso-Massiv lagern dort, vor vielen äußeren Einflüssen geschützt, rund dreißig Kilogramm des chemischen Elements Germanium. Der gesuchte radioaktive Zerfall würde ein charakteristisches Signal hinterlassen, das die Forscher messen könnten. Bislang blieb die Suche allerdings erfolglos. Das GERDA-Team nutzte die Zeit, um den Detektor immer weiter zu verfeinern und zu verbessern – und so immer mehr mögliche Störquellen, etwa durch andere radioaktive Zerfälle oder kosmische Strahlung, auszuschließen. „In dieser Hinsicht ist GERDA weltweit führend“, berichtet Jochum.
Ausgeklügelte Abschirm- und Analysemethoden sorgen dafür, dass der Detektor höchstens etwa alle fünf Jahre ein einziges unerwünschtes Ereignis registriert. Die Empfindlichkeit von GERDA erhöhte sich im Lauf der Jahre um ein Vielfaches. Sollte der neutrinolose doppelte Betazerfall also im untersuchten Germanium stattfinden, Jochum und seine Kollegen würden ihn mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit nachweisen können. Dank der bisherigen Messphasen des Experiments ließ sich eine neue Obergrenze für die Halbwertszeit des Zerfalls festlegen. Dies ist die Zeitspanne, nach der ein Germaniumatom mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent diesen Zerfall durchlaufen hat. „Die Halbwertszeit ist sehr wahrscheinlich größer als 8×1025 Jahre“, so Jochum. „Das bedeutet: Wenn Sie etwa sieben bis zehn Kilogramm Germanium nehmen, enthalten die rund 8×1025 Germaniumatome. Davon zerfällt dann maximal eines pro Jahr.“
Möglicherweise tritt der Zerfall aber auch noch seltener auf. Die Wissenschaftler müssen also entweder sehr lange messen, um den doppelten neutrinolosen Betazerfall zu entdecken, oder im Detektor mehr Germaniumatome beobachten, um die Chancen zu erhöhen. „Wir haben die störenden Untergrundsignale inzwischen so weit reduziert, dass es sinnvoll ist, die Detektormasse zu vergrößern“, erklärt Jochum. „Wir könnten locker einen Hundert-Kilogramm-Detektor bauen. Dann kann der Zerfall noch seltener sein und wir werden ihn trotzdem sehen.“
Nachdem sich die Physiker in der vergangenen experimentellen Phase von GERDA darauf konzentriert haben, die Empfindlichkeit des Detektors weiter zu erhöhen, wollen sie ihn in der derzeit laufenden Phase um weitere Detektorelemente erweitern. Von deutscher Seite haben sich dazu Institute aus Dresden, München, Tübingen und Berlin mit der internationalen GERDA-Kollaboration zusammengeschlossen. Das Bundesforschungsministerium fördert diese Bemühungen im Rahmen seiner Verbundforschung. „Rund die Hälfte der Fördermittel kommt Personalkosten zugute, fließt so also in den Betrieb des Detektors und die Analyse der Ergebnisse“, erklärt Jochum. „Die andere Hälfte ist für Sachmittel gedacht, denn wir brauchen mehr Germanium, um daraus neue Detektorelemente bauen zu können.“
Der Ausbau von rund dreißig Kilogramm Detektormaterial hin zu rund hundert Kilogramm wird momentan geplant. Langfristig streben Jochum und seine Kollegen einen ganz neuen Detektor mit einer Masse von rund einer Tonne an. Auch dafür brauchen die Wissenschaftler die Erfahrungen und Methoden, die sie im Rahmen von GERDA sammeln und entwickeln können. Jochum ist sich sicher, dass man den doppelten neutrinolosen Betazerfall – sollte es ihn denn geben – aufspüren wird. „Ob man ihn mit hundert Kilogramm Germanium beobachten kann oder erst mit fünfzig Tonnen, weiß kein Mensch“, sagt er. „Aber es kann jeden Tag passieren.“
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/astro-und-astroteilchenphysik/sind-neutrinos-ihre-eigenen-antiteilchen/