Die richtige Umgebung für weiche Materie
Franziska Konitzer
Als „weiche Materie“ bezeichnen Wissenschaftler alle Materialien, die sich relativ leicht durch äußere Einflüsse verändern lassen. Dies trifft im Regelfall auf biologische Systeme zu, weiche Materie spielt aber auch bei Verpackungsmaterialien oder in Pharmazeutika eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Verbundforschung entwickeln Forscher neue Möglichkeiten, weiche Materie an der Neutronenquelle HFR im französischen Grenoble zu untersuchen.
Weiche Materie nimmt eine Sonderstellung unter Materialien ein. Sie ist weder fest noch flüssig und lässt sich damit keinem dieser beiden Aggregatzustände eindeutig zuordnen. Flüssigkristalle, aus denen LCD-Bildschirme bestehen, gehören zur weichen Materie ebenso wie Gummi, Schokoladenpudding oder Blut. Was alle weiche Materie eint, ist laut Michael Gradzielski von der Technischen Universität Berlin die Tatsache, dass sie sich schon bei relativ geringen äußeren Einflüssen ändert.
„Auf einem Salzkristall kann man so viel herumdrücken, wie man will, es passiert nichts“, so der Wissenschaftler. „Aber wenn ich jemandem auf die Hand drücke, muss ich nicht viel Kraft aufwenden, damit derjenige es merkt. Das liegt daran, dass die Materie leicht reagiert.“ In biologischen Systemen ist weiche Materie besonders häufig anzutreffen – neben Blut zählen auch Gewebe oder etwa Gelenkflüssigkeit dazu.
Die äußeren Faktoren, die weiche Materie beeinflussen, beschränken sich nicht nur auf mechanische Kräfte wie Druck oder Zug. „Diese kleinen Veränderungen können vielerlei Natur sein“, bestätigt Gradzielski. „Unterschiedliche Arten von weicher Materie reagieren darauf, wie sich der pH-Wert ändert oder die Ionenstärke, etwa durch kleine Mengen an Salz, die zugegeben werden. Aber auch Temperaturänderungen oder elektrische Felder können weiche Materie beeinflussen.“
Wissenschaftler wollen auf fundamentaler Ebene herausfinden, wie genau sich weiche Materie unter verschiedenen Einflüssen verändert. Ein klassisches Mikroskop reicht dafür nicht aus. Gradzielski und seine Kollegen reisen stattdessen ins französische Grenoble, zum Hochflussreaktor HFR am internationalen Forschungsinstitut Laue-Langevin, um weiche Materie genau unter die Lupe zu nehmen. Der HFR produziert Neutronen – also die ungeladenen Bausteine von Atomkernen –, die tief in die zu untersuchende Materie eindringen können, ohne sie dabei zu zerstören. Die auf diese Weise entstehenden Aufnahmen machen selbst feinste Details im Größenbereich von einem bis zu wenigen Hundert Nanometern, also milliardstel Metern, sichtbar. Die stärkste kontinuierliche Neutronenquelle der Welt erlaubt den Forschern nicht nur statische Schnappschüsse, auch dynamische Prozesse lassen sich damit beobachten.
Der Hochflussreaktor HFR ist damit der richtige Ort für das Team um Gradzielski. Allerdings sind einige Vorarbeiten nötig. „Wir brauchen die passende, entsprechend komplexe Umgebung für unsere Proben“, erklärt Gradzielski. „Konkret heißt das: Wenn ich herausfinden möchte, wie weiche Materie auf ein elektrisches Feld reagiert, dann muss ich meine Probe auch in ein elektrisches Feld bringen.“
Derartige Probenumgebungen an einem Experimentierplatz am HFR zu schaffen, ist daher das Ziel. Das Vorhaben wird vom Bundesforschungsministerium im Rahmen der Verbundforschung gefördert, während die Forscher aus Berlin es gemeinsam mit den Kollegen am Institut Laue-Langevin umsetzen. Die Aufgabe mag zunächst einfach klingen. „Aber wenn man das tatsächlich umsetzt, ergeben sich schnell viele technische Kleinfragen, aber auch weiterreichende wissenschaftliche Fragestellungen“, so Gradzielski. „Wir müssen für unsere Proben nämlich genau die passenden Bedingungen schaffen und die richtige Kontrolle über sie haben. Die richtige Temperatur muss herrschen. Und auch die Menge, die untersucht werden soll, spielt eine Rolle. Chemieunternehmen arbeiten oft mit weicher Materie im Tonnenbereich. Biologen hingegen haben Proben mit Massen von wenigen millionstel Gramm.“
Einerseits kümmern sich Gradzielski und sein Team generell um den Aufbau, schaffen am HFR also die richtigen Bedingungen für die verschiedenen Proben. Denn die neuen Probenumgebungen sollen auch anderen Forschern zur Verfügung stehen und werden aktuell in eigenen Experimenten sowie in Forschungskooperationen getestet. In einer der Kooperationen geht es beispielsweise darum, wie genau sich eine Zelle fortbewegt. Auf derart kleinen Größenskalen ist ein klassisches Schwimmen nämlich unmöglich. Stattdessen bilden Zellen sogenannte Flagellen aus, fadenförmige Strukturen, mit deren Hilfe sie sich fortbewegen können. „Den Prozess der Flagellenbildung kann man triggern, also anschubsen, während die Zellen mithilfe der Neutronen untersucht werden“, erklärt Gradzielski. „Und mit dem Hochflussreaktor HFR und unserer Probenumgebung können wir auf einer Größenskala von milliardstel Metern beobachten, wie sich die Flagellen auf dieser Größenskala bilden und wie sie funktionieren.“
Andererseits wollen Gradzielski und sein Team aber auch ihre eigenen Analysen an der Neutronenquelle durchführen. Dabei interessiert die Gruppe vor allem, wie bestimmte chemische Reaktionen ablaufen. „Um das herauszufinden, müssen wir natürlich diese gesamte Reaktion kontrolliert in die Bedingungen des Neutronenexperiments transportieren“, erläutert Gradzielski. Nachdem die Gruppe in der ersten Hälfte des Projekts die neuen Probenumgebungen entwickelt hat, testen sie diese inzwischen an ausgewählten Experimenten.
Informationen zu diesem Projekt
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert dieses Projekt im Zeitraum von Juli 2016 bis Juli 2019 mit rund 500 000 Euro.
Fördersumme: 491 312 Euro
Förderzeitraum: 01.07.2016 bis 30.06.2019
Förderkennzeichen: 05K16KT1
Beteiligte Institutionen: Technische Universität Berlin
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/die-richtige-umgebung-fuer-weiche-materie/