Mit Neutronen ins Innere der Materie blicken
Franziska Konitzer
Der Hochflussreaktor, kurz HFR, am Institut Laue-Langevin ILL im französischen Grenoble ist die stärkste kontinuierliche Neutronenquelle der Welt. Auch Deutschland ist als Gründungsmitglied am internationalen Forschungsinstitut ILL beteiligt. Mit gutem Grund: Am HFR werden mit höchster Genauigkeit die kleinsten Strukturen in der Natur untersucht – selbst der molekulare oder sogar atomare Aufbau von Materie lässt sich mit Neutronen abbilden.
An verschiedenen Messplätzen rund um die Neutronenquelle sind etliche Messinstrumente installiert, die den Fokus jeweils auf unterschiedliche Fragestellungen legen. So untersuchen Wissenschaftler mithilfe von Neutronenstreu-Experimenten beispielsweise Prozesse in Brennstoffzellen, um diese Energiewandler weiter zu optimieren. In dem vorgestellten Verbundprojekt verzehnfachen Forscher der Universität Erlangen-Nürnberg durch eine technische Erweiterung den Energiebereich und das Auflösungsvermögen eines der am HFR eingesetzten Messinstrumente – des sogenannten Neutronenrückstreuspektrometer IN16B. Neben der Untersuchung von Brennstoffzellen eröffnen sich damit weitere Anwendungsfelder für das hochentwickelte Messinstrument: Auch für komplexe Materialien wie Polymere, magnetische oder biologische Proben ist es dann bestens gerüstet.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Vorhaben im aktuellen Förderzeitraum 2013 bis 2016 mit insgesamt rund zwei Millionen Euro.
Fördersumme: 2 018 997,48 €
Förderzeitraum: 01.07.2013 bis 30.06.2016
Förderkennzeichen: 05K13WE1
Beteiligte Institutionen: Universität Erlangen-Nürnberg
Projektseite: Lehrstuhl für Kristallografie und Strukturphysik, Universität Erlangen-Nürnberg
Neutronenrückstreuspektrometer helfen Wissenschaftlern dabei, dynamische Vorgänge in Festkörpern – etwa die Bewegung von Lithiumionen in Batterien – hochpräzise zu vermessen. In einem Verbundprojekt entwickeln Forscher der Universität Erlangen-Nürnberg und des Instituts Laue-Langevin zusammen mit Partnern aus der Industrie verbesserte Instrumentierungen für Neutronenrückstreuspektrometer am Forschungsreaktor im französischen Grenoble.
Wissenschaftler nutzen freie Neutronen gewissermaßen als Sonde, um das Innere von Festkörpern zu erkunden. Da die Partikel elektrisch neutral sind, werden sie weder vom elektrischen Feld der geladenen Atomkerne noch von deren Elektronenhülle abgelenkt. Im Gegensatz zu Elektronen oder Röntgenstrahlen können sie dadurch oftmals zentimetertief in eine Probe eindringen, bevor sie dort an Materie abprallen oder absorbiert werden. Durch Messungen dieser gestreuten Neutronen lässt sich auf die Dynamik innerhalb der Festkörper oder Flüssigkeiten zurückschließen.
„Mit Neutronenspektrometern können wir sichtbar machen, inwiefern sich Atome oder Schallwellen innerhalb des Materials bewegen“, erklärt Andreas Magerl von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Wir können aber auch Diffusionsprozesse untersuchen, wenn Atome durch den Festkörper hindurch wandern, wie das beispielsweise bei Lithiumionen in Batterien der Fall ist.“
Andreas Magerl leitet eine Forschungsgruppe, die im Rahmen der Verbundforschung ein Neutronenrückstreuspektrometer am Institut Laue-Langevin im französischen Grenoble optimiert. Weltweit gibt es nur ein halbes Dutzend dieser hochkomplexen Geräte. „Unter den Spektrometern hat das Rückstreuspektrometer die höchste Energieauflösung", sagt Magerl. „Deshalb können wir uns damit auch relativ langsame Vorgänge anschauen.“ Dazu zählt beispielsweise die Bewegung von Molekülgruppen, die die Funktion von Proteinen beeinflusst, die Protonendynamik in Brennstoffzellen oder das Verhalten von Molekülen auf Größenskalen von milliardstel Metern.
Die für solche Analysen benötigten Neutronen werden in einem Forschungsreaktor erzeugt und besitzen zunächst ganz unterschiedliche Energien. Deshalb durchlaufen die Partikel im Spektrometer einen speziellen Kristall, den sogenannten Monochromator, der nur Neutronen eines sehr bestimmten Energiespektrums streut und zur Probe leitet.
Sobald die Neutronen innerhalb der Probe mit Materieteilchen zusammenstoßen und an ihnen abprallen, verlieren sie ein wenig Energie. Diese winzige Energiedifferenz messen die Wissenschaftler mit dem sogenannten Analysator – einer zehn Quadratmeter großen Kristallfläche, die ebenfalls lediglich Neutronen einer festgelegten Energie streut und zum Detektor lenkt. „Immer wenn der Detektor ein Neutron auffängt, schaut die Elektronik nach, was die Anfangsenergie der Neutronen war. Wir wissen dann also, wie viel Energie das Neutron verloren hat und können somit auf die charakteristischen Prozesse in der Probe schließen“, so Magerl.
Hohe Energieauflösung
Das Vorhaben von Magerl und seinen Kollegen besteht aus zwei Teilprojekten. Im ersten Projekt wollen sie die Energieauflösung des Neutronenrückstreuspektrometers erhöhen, um noch langsamere Prozesse als derzeit möglich erfassen zu können – denn je langsamer die Dynamik, desto weniger Energie verliert das Neutron bei einem Zusammenstoß und desto geringer ist die zu messende Energiedifferenz. Die Energieauflösung der Anlage hängt dabei vom Material ab, das für die Kristallfläche des Analysators verwendet wird. „Alle Rückstreuspektrometer verwenden dafür derzeit Silizium“, sagt Magerl. „Die Energieauflösung ist umso besser, je mehr Ebenen innerhalb der Kristallstruktur zur Streuung der Neutronen beitragen. Bei Silizium sind das etwa 100 000 Ebenen.“
Die Forscher um Magerl setzen hingegen auf Galliumarsenid, das wie Silizium ein Halbleitermaterial ist, doch tragen hier eine Million Ebenen zur Neutronenstreuung bei. Auf diese Weise ermöglicht es eine zehnmal höhere Energieauflösung. „Wir interessieren uns beispielsweise für Batteriematerialien. Früher konnte man die Bewegung von Lithiumionen innerhalb der Elektroden von Batterien nur bei hohen Temperaturen messen, denn sobald man von der Temperatur her in den anwendungsrelevanten Bereich ging, wurde der Prozess so langsam, dass das Neutronenrückstreuspektrometer diesen nicht mehr auflösen konnte“, beschreibt Magerl zukünftige Einsatzmöglichkeiten. „Mithilfe von Galliumarsenid ist die Auflösung aber hoch genug, dass wir in diesen Bereich vordringen können.“
Die Qualität des Galliumarsenidkristalls muss dafür allerdings nahezu perfekt sein. Daher fertigen die Forscher die Analysatorfläche nicht aus einem Stück, sondern setzen sie aus zahlreichen vier mal vier Millimeter großen und rund einem halben Millimeter dicken Galliumarsenid-Blättchen zusammen. Die so entstandenen Kristalle wurden vor Ort in Grenoble ausführlichen Tests unterzogen. „Unter anderem haben wir so herausgefunden, dass ein klassisches Schneiden des Kristalls in die Blättchenform zu Randstörungen führt, die die Auflösung des Spektrometers kaputt machen würden“, berichtet Magerl. „Stattdessen müssen unsere Kristalle gespalten werden.“
Derzeit bauen die Forscher einen Demonstrator – eine Analysatorfläche von einem halben Quadratmeter –, den sie anschließend am Neutronenrückstreuspektrometer testen wollen.
Erweiterung des dynamischen Bereichs
Im zweiten Teilprojekt befassen sich die Wissenschaftler mit einem Flugzeitmonochromator – mit dem Ziel, die Anfangsenergie der Neutronen optimal einstellen zu können. „Vor allem moderne Proben sind hochkomplex, etwa Polymere“, erklärt Magerl. „In solchen Proben läuft eine Vielzahl von Prozessen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Wenn man diese alle gleichzeitig messen will, braucht man ein breiteres Energieband an Neutronen.“
Kernstück des Projekts ist ein neuartiges Choppersystem – ein System aus sehr schnell rotierenden Scheiben, auf das der zunächst kontinuierliche Partikelstrahl trifft und in kurze Pulse zerteilt wird. In einem zweiten Schritt lässt ein weiteres Choppersystem nur eine gewisse Bandbreite an Neutronenenergien hindurch. „Dieses Energieband wird zehnmal breiter sein als jenes, das der klassische Kristallmonochromator bieten kann“, sagt Magerl.
An ihren äußeren Rändern erreichen die Chopperscheiben Geschwindigkeiten von 750 Metern pro Sekunde, sind also enormen mechanischen Belastungen ausgesetzt. Ihre Herstellung gestaltet sich daher schwierig. Bislang bestehen solche Scheiben aus Kohlenstofffasern, die quer zueinander angeordnet sind. Das Problem dabei: Die Fasern, die in Drehrichtung liegen, tragen nicht zur Stabilität bei, müssen aber von den übrigen Fasern mitgetragen werden. In Zusammenarbeit mit einem Satellitenhersteller erarbeiteten die Wissenschaftler eine Lösung.
Bei den neuen Chopperscheiben sind die Kohlenstofffasern ähnlich wie bei einem Sternzwirn angeordnet. Dies ermöglicht eine optimale Verteilung der Belastung auf das Material. „Es gibt keine tote Masse mehr, die gehalten werden muss“, bestätigt Magerl. „Diese Chopperscheiben sollten eigentlich ein ewiges Leben haben.“
Nach mehrjähriger Entwicklungsarbeit ist das Choppersystem inzwischen fertiggestellt – im Frühjahr 2016 wollen die Forscher ihr System in Grenoble installieren. Andreas Magerl rechnet damit, dass beide Teilprojekte Mitte des nächsten Jahres erfolgreich abgeschlossen sein werden.
Welt der Physik CC by-sa
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/mit-neutronen-ins-innere-der-materie-blicken/