Wirkstoffsuche am Teilchenbeschleuniger

Maike Pollmann

Mit Synchrotronlicht aus Teilchenbeschleunigern durchleuchten und charakterisieren Wissenschaftler eine Vielzahl von Testsubstanzen und spüren so neue Wirkstoffe für die Medizin auf. In ihrem Projekt „Frag2Xtal“ richten Gerhard Klebe von der Universität Marburg, Uwe Müller und Manfred Weiss vom Helmholtz-Zentrum Berlin eigens dafür einen Messplatz am Elektronenspeicherring BESSY II ein und optimieren das gesamte Verfahren – von der Auswahl der Testsubstanzen bis hin zu einer effizienten Datenauswertung.

Viele Wirkstoffe gehen auf Substanzen zurück, die natürlich vorkommen, beispielsweise in Pflanzen und Tieren, oder sind Vorbildern in unserem Körper nachempfunden. Inzwischen versucht man, auch ohne solche Vorlagen neue Medikamente zu entwickeln, wenn die für eine Krankheit verantwortlichen Biomoleküle bekannt sind. Das können fehlregulierte Enzyme sein, die Peptidketten – ähnlich wie in der Verdauung – aufspalten und so einen bestimmten Prozess im Stoffwechsel beeinflussen oder Signalkaskaden anstoßen. Um hier helfend einzugreifen, muss der gesuchte Wirkstoff als kleines organisches Molekül an die beteiligten Biomoleküle andocken und dort den fehlerhaften Prozess korrigieren, etwa ein Enzym blockieren oder einen Rezeptor ein- oder ausschalten.

Konzentrsiche Kreise aus Grauschattierungen, darin bilden einzelne Punkte ein Muster.

Beugungsmuster

Insgesamt spielen in unserem Körper rund hunderttausend Biomoleküle eine Rolle, aber nur fünf bis zehn Prozent lassen sich für eine Arzneistofftherapie ausnutzen. Daher ist eine gezielte Suche nach solchen Wirkstoffen essenziell, um neue Medikamente zu entwickeln. Dazu klären Forscher wie Gerhard Klebe von der Universität Marburg zunächst die Struktur des Biomoleküls auf, an dem der Wirkstoff später binden soll. Besonders bewährt hat sich dabei die Kristallstrukturanalyse: Intensives Röntgenlicht aus einer Synchrotronquelle wird auf eine Probe gelenkt und an dessen Kristallgitter gestreut. Anhand des resultierenden Beugungsmusters lässt sich dann auf die räumliche Anordnung der Atome in der Probe schließen. Allerdings muss man die Proteine für dieses Verfahren erst in eine kristalline Form überführen.

Schlüssel und Schloss

Kennen Wissenschaftler nach einer solchen Analyse die Struktur des Zielproteins, können sie grob abschätzen, wie ein Molekül aussehen müsste, um in die Bindetaschen an der Oberfläche eines solchen Proteins zu passen. In solchen Bindetaschen laufen normalerweise biochemische Reaktionen ab, oder durch die Bindung werden Signale und damit Informationen zwischen Zellen weitergegeben. „Um einen passenden Arzneistoff zu finden, probiert man einige Tausend chemische Verbindungen einfach durch, so als würde man testen, ob ein Schlüssel in ein gegebenes Schloss passt“, erläutert Klebe. Dabei spielen die Forscher den Prozess aus dem Körper im Labor nach: Sie geben die Testsubstanzen nacheinander auf das Zielprotein und schauen, welche der Moleküle die ursprüngliche Aufgabe des Zielproteins verändern. „Das kann man natürlich automatisieren – das wird inzwischen alles von Robotern erledigt“, so Klebe.

Auf diese Weise lassen sich sogenannte Leitstrukturen entdecken, die den Ausgangspunkt bei der Suche nach einem neuen Arzneistoff bilden. Denn die Treffermoleküle zeigen zwar bereits die erwünschte biologische Wirkung, für den therapeutischen Einsatz gilt es aber, noch viele Eigenschaften zu verbessern – so müssen die Bindung an das Zielprotein verstärkt, die Wirkdauer angepasst, die Verfügbarkeit im Körper optimiert und die Nebenwirkungen minimiert werden. Erreichen lässt sich dies durch gezielte chemische Variationen der Verbindung. „Wir können aber nicht einfach hier und da Atomgruppen anhängen, denn dadurch wird nicht nur die Chemie sehr aufwendig und komplex – auch werden solche Moleküle schnell so groß, dass sie über unsere Leber gleich wieder aussortiert werden“, erläutert Klebe.

Verschiedenfarbige Stränge, die an Telefonkabel erinnern, dazwischen chemsiche Verbindungen.

Molekülstruktur

Damit beim Wirkstoffdesign mehr Spielraum bleibt, setzen Forscher seit rund 15 Jahren auf sehr kleine Moleküle als erste Testkandidaten. Inzwischen sind bereits mehr als zehn Arzneistoffe entwickelt worden, die auf diese sogenannten Fragmente zurückgehen; erste Präparate sind sogar schon erfolgreich im Einsatz. Aufgrund der geringen Größe dieser Verbindungen ist die Bindung an das Zielprotein allerdings sehr schwach und lässt sich mit vielen etablierten Verfahren nicht zuverlässig nachweisen. „Es ist eigentlich enttäuschend, wie viele Treffer die biophysikalischen Methoden verpassen, die wir aber mit der Kristallstrukturanalyse finden“, bestätigt Klebe. Die Analyse mit Synchrotronlicht liefert nicht nur eine höhere Ausbeute an Wirkstoffkandidaten, sondern bildet gleichzeitig auch die räumliche Struktur des Zielproteins mit dem gebundenen Fragment ab. Und das ist wiederum eine wesentliche Voraussetzung, um die Testsubstanz später gegebenenfalls chemisch weiterzuentwickeln.

Trotz dieser Vorteile setzten Forscher die Methode bislang nur selten zum Durchmustern ganzer Substanzbibliotheken ein. Denn eine Kristallstrukturanalyse ist vergleichsweise zeitaufwendig und Messzeit am Synchrotron teuer. Mit immer leistungsfähigeren Strahlrohren, neuen Detektoren und Probenwechslern lässt sich das Verfahren allerdings beschleunigen und weitgehend automatisieren. Genau hier setzt das Vorhaben von Klebe und seinen Kollegen Uwe Müller und Manfred Weiss vom Helmholtz-Zentrum Berlin an: „Wir wollen die Methoden noch weiter ausreizen, sodass man in ein oder zwei Tagen problemlos drei- oder vierhundert Datensätze sammeln kann, um so ein zuverlässiges Durchmustern von Fragmentbibliotheken mit der Kristallografie zu schaffen.“

Schnell und zuverlässig

Momentan sind die Wissenschaftler dabei, eine Fragmentbibliothek zusammenzustellen – am Ende soll diese rund tausend verschiedene Testmoleküle mit einer möglichst großen chemischen Variation umfassen. Je nach vorgegebenem Zielprotein lässt sich dann eine geeignete Vorauswahl mit aussichtsreichen Kandidaten erstellen. Anschließend lösen die Wissenschaftler die verschiedenen Fragmente in einer Pufferlösung und tränken damit die gezüchteten Proteinkristalle. So präpariert und tiefgefroren werden die Proben dann mit Synchrotronlicht aus dem Elektronenspeicherring BESSY II durchleuchtet. Um die Suche nach bindenden Fragmenten deutlich zu beschleunigen, optimiert das Team um Klebe derzeit einen Messplatz an BESSY II speziell für das Fragmentscreening. Hier sollen sich die Messungen in einigen Monaten weitestgehend automatisiert durchführen und auswerten lassen.

Illustration des künftigen Messplatzes.

Geplanter Messplatz an BESSY II

Für den anschließenden Weg von den Fragmenttreffern zu anwendbaren Wirkstoffen entwickeln Klebe und sein Team effiziente Computerprogramme, die eine Reihe aussichtsreicher und synthetisch einfach realisierbarer Moleküle vorschlagen. Das im Rahmen des Projekts „Frag2Xtal“ entstehende Gesamtpaket – vom optimierten Messplatz über die Fragmentbibliothek bis hin zu ersten Designvorschlägen – soll später weltweit anderen Forschergruppen zur Verfügung stehen. „Unser Ziel ist ein Protokoll, das auch für den nichttrainierten Benutzer einfach zu verwenden ist“, fasst Klebe zusammen.

Interesse erwartet der Wissenschaftler sowohl aus der Industrie, vor allem von kleinen Firmen, als auch aus dem akademischen Umfeld. Denn gerade bei weniger lukrativen Wirkstoffen, wie beispielsweise Antiinfektiva oder Medikamenten gegen seltene Krankheiten, könne die akademische Forschung einen wichtigen Beitrag leisten. Fragmentstrukturen stellen für diese Gruppen ideale Startpunkte für eine Wirkstoffentwicklung dar.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/wirkstoffsuche-am-teilchenbeschleuniger/