Ein großer Detektor für die großen Fragen
Nora Kusche
Das CERN bei Genf ist die mit Abstand bedeutendste Großforschungsanlage für Elementarteilchen- und Kernphysik. Am dortigen Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider rasen Atomkerne in einem 27 Kilometer langen Ring im Kreis und prallen aufeinander. So entstehen extrem hohe Energiedichten, ein sonst unzugänglicher Bereich der Physik wird erforschbar und fehlende Puzzlestücke in unserem Verständnis des Universums lassen sich ergänzen. Im Jahr 2012 wurde auf diese Art am ATLAS-Detektor des LHC das vorhergesagte Higgs-Teilchen nachgewiesen. In den vergangenen zwei Jahren wurde der LHC grundlegend technisch überholt und im März 2015 wieder in Betrieb genommen. Die Kollisionsenergie beträgt bis zu 14 Terraelektronenvolt.
Aufgrund der hohen Kollisionsenergie lassen sich mit ATLAS sowohl die Eigenschaften des Higgs-Teilchens genauer untersuchen als auch ein neuer, bislang unerforschter Bereich der Physik entdecken. Dabei soll der LHC mit höchsten Teilchenkollisionsraten laufen – mit über 1,5 Milliarden anstatt wie bisher mit rund 600 Millionen Kollisionen pro Sekunde. Zusätzlich erhöht sich die Komplexität der Ereignisse, sodass sich die Datenmenge circa vervierfachen wird. Diese außerordentlich hohe „Luminosität“ ermöglicht eine genauere Vermessung selbst äußerst seltener Teilchenzerfälle. Zugleich stellt sie extreme Anforderungen an die Datenaufzeichnung, Auswertung und auch an die Lebensdauer einzelner Komponenten des Detektors aufgrund der Strahlenbelastung. Daher werden im Rahmen des sogenannten Phase-1-Upgrades bis zum Jahr 2018 und parallel zur Datennahme viele Komponenten des ATLAS-Detektors verbessert und ausgetauscht.
Forschungsgruppen aus Deutschland sind in diesem Zuge wesentlich am Neubau und der Optimierung zahlreicher Detektorkomponenten beteiligt, um die Spurrekonstruktion, Teilchenidentifizierung und die Datennahme den hohen Herausforderungen anzupassen. Die deutlich gewachsenen Messdatenraten können nur mit einer grundlegend neu gestalteten Ausleseelektronik und verbesserten Detektorkomponenten bewältigt werden. Aus den Milliarden von Daten pro Sekunde müssen automatische Auswahlsysteme in Echtzeit bekannte von neuen, noch unerforschten Teilchenzerfällen trennen – eine große Herausforderung für Hard- und Software.
Während der Messzeit des LHC sind die deutschen Gruppen in die Nutzung des ATLAS-Detektors verantwortlich eingebunden und werten in der internationalen ATLAS-Kooperation die Messdaten auf der Suche nach neuer Physik aus. Begleitet werden diese Arbeiten der Experimentalphysiker durch die Entwicklung beziehungsweise Rechnung von phänomenologischen Modellen zu den Vorgängen vor, während und nach der Teilchenkollision, um in den Daten mögliche Abweichungen von Vorhersagen des bisher mit hoher Präzision getesteten Rahmenbaus aus der theoretischen Physik, dem Standardmodell der Teilchenphysik, entdecken zu können.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert dieses Verbundprojekt im Zeitraum von Juli 2015 bis Juni 2018 mit rund 30 Millionen Euro.
Fördersumme: 31 166 382 €
Förderzeitraum: 01.07.2015 bis 30.06.2018
Förderkennzeichen: 05H15ODCA1, 05H15PDCAA, 05H15PECAA, 05H15PSCA1, 05H15PXCAA, 05H15RGCAA, 05H15UMCA1, 05H15VFCA1, 05H15VTCAA, 05H15WMCA1, 05H15WOCAA, 05H15WWCA1
Beteiligte Institutionen: Universität Freiburg, Universität Wuppertal, Universität Tübingen, Universität Göttingen, Humboldt-Universität zu Berlin, Universität Mainz, Universität Gießen, Universität Würzburg, Ludwig-Maximilians-Universität München, Universität Bonn, Universität Heidelberg, Technische Universität Dortmund, Technische Universität Dresden, Technische Universität München, Universität Siegen, Deutsches Elektronen-Synchrotron, Max-Planck-Institut für Physik
Projektseite: ATLAS-Experiment
Das ATLAS-Experiment am Forschungszentrum CERN ist der größte jemals gebaute Teilchendetektor. Mithilfe seiner Zwiebelschalenstruktur zeichnet er in jeder Schicht einzelne Teilchen auf. Sie entstehen, wenn Protonen mit hohen Energien aufeinanderprallen. Physiker wollen durch diese Zerfallsprodukte neue Physik jenseits der etablierten Theorien entdecken – also weitere Higgs-Bosonen, bisher unentdeckte Teilchen der Dunklen Materie oder neue Raumdimensionen. Um solche Phänomene zu finden, lassen Physiker immer mehr Protonen mit immer höherer Geschwindigkeit kollidieren. Karl Jakobs will als neuer ATLAS-Sprecher dafür sorgen, dass die Messtechnik seines Experiments bei dieser Entwicklung mithalten kann. So soll der große Detektor Antworten auf die großen Fragen der Physik liefern.
„Ich bin ja nicht zum ersten Mal in Genf, sondern ich arbeite seit 30 Jahren hier“, sagt Karl Jakobs auf die Frage, ob er sich im schweizerischen Genf schon eingelebt hat. Nachdem er im Wintersemester noch seine Vorlesungen an der Freiburger Universität hielt und die 300 Kilometer zum Forschungszentrum CERN nach Genf pendelte, lässt er seine Professur nun für zwei Jahre ruhen. Denn Karl Jakobs ist seit dem 1. März dieses Jahres neuer Sprecher der ATLAS-Kollaboration und das erfordert seine ständige Präsenz am CERN. Doch auch schon vorher verbrachte der Freiburger Professor viel Zeit mit Arbeitsgruppen vor Ort.
Laut Angaben des Projektträgers DESY forscht derzeit etwa die Hälfte aller deutschen Universitätsgruppen für experimentelle Teilchenphysik an ATLAS. Das Geld dafür kommt vom Bundesforschungsministerium. Es fördert die deutschen Arbeiten am weltgrößten Teilchendetektor unter anderem im Rahmen des Forschungsschwerpunkts 103 „Physik bei höchsten Energien am Large Hadron Collider“. ATLAS ist mit einer Länge von 46 Metern und einem Durchmesser von 25 Metern etwa halb so groß wie die Kathedrale Notre-Dame in Paris.
Am ATLAS-Experiment arbeiten etwa 3000 Physiker. Sie decken dabei alle Bereiche ab, die für den Betrieb notwendig sind: Sie kalibrieren die Messgeräte des Detektors, zeichnen die gemessenen Daten der Zerfallsprodukte auf und analysieren bestimmte Eigenschaften wie Impuls, Energie und Lebensdauer der Partikel. Parallel sind einige Gruppen für den Ausbau der empfindlichen Detektortechnik zuständig.
Bessere Technik für mehr Kollisionen
Bevor Karl Jakobs in seine neue Position als Sprecher des gesamten Experiments gewählt wurde, war er Sprecher der deutschen ATLAS-Gruppen. Er weiß daher, worauf er sich einlässt: „Die größte Aufgabe in meinem neuen Job ist es, dafür zu sorgen, dass alle 3000 Physiker gut zusammenarbeiten. Aber es ist ja nicht so, dass ich bei null anfange, wir haben natürlich schon erfolgreiche Strukturen der Zusammenarbeit in dem Experiment“, so Jakobs. Neben Jakobs als Sprecher gibt es für die verschiedenen Bereiche Koordinatoren: einen, der die physikalische Forschung organisiert, einen für den laufenden Betrieb und einen Koordinator für das technische Upgrade, also die Weiterentwicklung des Detektors.
In Jakobs' zweijähriger Amtszeit steht in erster Linie die Analyse der weiteren Daten im Vordergrund, die bei der bislang höchsten Kollisionsenergie von 13 Teraelektronvolt am LHC aufgezeichnet werden. Außerdem steht ein Upgrade von ATLAS an. Dabei sollen die Ausleseelektronik exakter und einige Detektorkomponenten strahlungsresistenter werden. Damit reagieren Jakobs und Kollegen darauf, dass im 27 Kilometer langen Beschleunigerring immer mehr Protonen in immer kürzeren Zeitspannen zur Kollision gebracht werden. „Gerade laufen wir mit der höchsten Energie bisher, 13 Teraelektronenvolt, und das geht auch die nächsten zwei Jahre stabil so weiter“, sagt Karl Jakobs. Dabei erhöhen die Physiker allerdings die Kollisionsrate, die sogenannte Luminosität. So vergrößern sie die Menge der Messdaten um das Vier- bis Fünffache. Im Jahr 2021 soll dann auch die Energie des LHC erhöht werden – auf 14 Teraelektronenvolt.
Erste Priorität der Physiker ist es, so viele Daten wie möglich zu sammeln. Denn je mehr Messergebnisse die Arbeitsgruppen haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit darin neue Physik zu finden. Und auf solch einen Durchbruch arbeiten Teilchenphysiker weltweit seit Jahren hin. Das letzte Erfolgserlebnis hatten sie vor fünf Jahren, als das lange gesuchte Higgs-Teilchen sowohl im ATLAS-Detektor wie auch im benachbarten CMS-Detektor nachgewiesen werden konnte. Dieses Boson war das letzte unbestätigte Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik. Der Higgs-Mechanismus soll durch ein sogenanntes Higgs-Feld, mit dem die Elementarteilchen wechselwirken, für deren Masse verantwortlich sein.
Auf den Spuren neuer Physik
Seit seiner Entdeckung haben Physiker das Higgs-Teilchen präzise vermessen und erforscht. Dennoch gibt es auf die Frage, ob es sich mit Sicherheit um das theoretisch vorhergesagte Teilchen handelt, keine klare Antwort. Karl Jakobs sagt dazu: „Nach seiner Entdeckung, waren wir erst einmal vorsichtig, es als Higgs-Teilchen auszurufen. Deshalb haben wir in den letzten Jahren viele Daten aufgezeichnet und die Eigenschaften vermessen.“ Inzwischen sind sich die Physiker sicher, dass das entdeckte Teilchen die im Higgs-Mechanismus postulierten Eigenschaften zeigt. So wechselwirkt es auf genau die Art und Weise mit anderen Elementarteilchen, wie im Standardmodell vorhergesagt.
Jakobs Fazit: „Wir können heute sagen, dass alle Daten, die wir von diesem Boson aufgezeichnet haben, kompatibel mit den Vorhersagen des Standardmodells für das Higgs-Teilchen sind – im Rahmen der Messfehler von etwa 20 Prozent. Aber um ganz sicher zu sein, müssen wir noch genauer die Wahrscheinlichkeiten der Zerfallskanäle bestimmen und die Messungen der Wechselwirkungsstärken vorantreiben. Das ist Teil meiner neuen Aufgabe.“
Bei der inhaltlichen Ausrichtung von ATLAS setzt der neue Sprecher neben der präzisen Vermessung des Higgs-Teilchens auch auf die Suche neuer, unbekannter Teilchen, die nicht im Standardmodell vorkommen. „Wir wollen Abweichungen messen, die wir nie vermutet haben. Wir arbeiten quasi darauf hin, uns positiv überraschen zu lassen“, so Jakobs. Mit dem Nachweis des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 gehört das Standardmodell der Teilchenphysik – neben Einsteins Relativitätstheorie – zu den am besten bestätigten physikalischen Theorien. Trotzdem geben sich Teilchenphysiker damit nicht zufrieden, denn es gibt Phänomene, die sich durch die etablierten Theorien nicht erklären lassen. Beispielsweise kann das Standardmodell den größten Anteil von Materie im Universum gar nicht beschreiben. Physiker bezeichnen diese Unbekannte als Dunkle Materie.
„Die Dunkle Materie ist eine der wichtigsten Fragen der Physik und auch da sind wir dran. Wenn Dunkle Materie Teilchencharakter hat, können wir die eventuell hier am LHC produzieren“, sagt Karl Jakobs. Über diese angenommene Form von Materie ist nicht viel bekannt. Sie ist nicht direkt sichtbar, soll aber über die Gravitation wechselwirken. Jakobs: „Leider macht die Theorie da keine großen Vorhersagen, aber wir schauen – wie immer –, ob wir Abweichungen von dem sehen, was das Standardmodell vorhersagt. Da arbeiten wir Hand in Hand mit Experimenten zur Annihilationsstrahlung im Weltraum oder mit Projekten, die die Streuung von Dunkler Materie an Atomkernen unterirdisch untersuchen.“
Von Dunkler Materie zur Supersymmetrie
Allerdings hat sich bisher kein Kandidat für ein Dunkle-Materie-Teilchen durchsetzen können. Vorgeschlagen waren neben sogenannten Axionen und Majorana-Fermionen auch Neutralinos, die sich aus einem anderen vielversprechenden Ansatz in der Teilchenphysik ergeben: der Supersymmetrie. Diese besagt, dass jedes bekannte Elementarteilchen ein Zwillingsteilchen haben muss.
Allerdings tappen Physiker auch hier noch im Dunkeln. Von den supersymmetrischen Partnerteilchen fehlt bisher jede Spur. Karl Jakobs lässt sich davon nicht verunsichern: „Wir haben bislang noch keine Anzeichen dieser Teilchen gesehen, womit einige einfache Modelle bereits ausgeschlossen sind. Allerdings können kompliziertere Szenarien vorliegen oder die Teilchen können bei höheren Massen auftreten.“
Supersymmetrie, Dunkle Materie und Higgs-Teilchen sind die Forschungsschwerpunkte des neuen ATLAS-Sprechers, an dem er und seine Mitstreiter die nächsten zwei Jahre intensiv arbeiten werden. Zeit für Freizeit bleibt da wenig. „Jenseits des Beschleunigerrings habe ich bisher kaum etwas gesehen. ATLAS-Sprecher, das ist ein Fulltime-Job und vielleicht sogar mehr“, so Karl Jakobs. Dann überlegt er kurz und fügt hinzu: „Aber das ist sie mir wert, die neue Physik.“
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/ein-grosser-detektor-fuer-die-grossen-fragen/