„Der erste direkte Nachweis“
Alle uns bekannte Materie im Universum setzt sich aus winzigen Bausteinen – den Elementarteilchen – zusammen. Ihre Eigenschaften lassen sich mit Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN im Detail untersuchen. Dort haben Forscher mit den Detektoren des ALICE-Experiments nun ein Phänomen beobachtet, das bislang nur aus theoretischen Berechnungen bekannt war. Welche neuen Erkenntnisse diese Entdeckung bringt und was sie für die Teilchenphysik bedeutet, berichtet Christian Klein-Bösing von der Universität Münster im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Was wird mit den Experimenten am Forschungszentrum CERN untersucht?
Christian Klein-Bösing: Wir erforschen die fundamentalen Bausteine, aus denen sich die gesamte uns bekannte Materie zusammensetzt: Atome bestehen aus einer Atomhülle mit Elektronen und einem Atomkern, der Protonen und Neutronen enthält. Während Elektronen bereits elementare Teilchen sind, setzen sich die Protonen und Neutronen wiederum aus noch kleineren Teilchen, den sogenannten Quarks und Gluonen, zusammen. Da Quarks und Gluonen jedoch fest in den Protonen und Neutronen eingeschlossen sind, lassen sich ihre Eigenschaften nur schwer untersuchen.
Wie erforschen Sie die Quarks und Gluonen dann?
Mit dem Large Hadron Collider – kurz LHC – beschleunigen wir Protonen auf sehr hohe Energien und lassen sie aufeinanderprallen. Bei diesen Kollisionen brechen die Protonen in ihre Bestandteile – die Quarks und Gluonen – auf. Mit großen Detektoren wie denen des ALICE-Experiments können wir dann die Eigenschaften dieser winzigen Teilchen und die sogenannte starke Kraft, die zwischen ihnen wirkt, genauer untersuchen.
Und wie machen Sie das?
Tatsächlich bewegen sich die Quarks und Gluonen im ALICE-Experiment nur für Sekundenbruchteile frei umher. Unmittelbar nach der Kollision beginnen sie, ihre Energie abzustrahlen – und zwar in Form von neuen Gluonen, die aus der überschüssigen Energie entstehen. Auch diese Gluonen können ihre Energie in Form weiterer Gluonen abstrahlen. Außerdem können sie in Quarks zerfallen. So entsteht quasi direkt nach der Kollision im Teilchenbeschleuniger eine Kaskade aus immer energieärmeren Quarks und Gluonen, die sich daraufhin wieder zu gebundenen Teilchen zusammenschließen. Diese gebundenen Teilchen können wir schließlich mit den Detektoren des ALICE-Experiments nachweisen. Die große Herausforderung ist es dann, aus den zahlreichen Spuren im Detektor die Eigenschaften der ursprünglichen Quarks und Gluonen zu rekonstruieren. Daran arbeitet meine Forschungsgruppe.
Wie gelingt Ihnen das?
Wir schauen uns sogenannte Jets an. Das sind kegelförmige Bereiche in der Flugrichtung der ursprünglichen Quarks und Gluonen. In diesen Bereichen entstehen nach der Kollision die meisten Teilchen. Nun können wir versuchen, die Struktur dieser Jets zu entschlüsseln: Wenn etwa zwei Teilchen sehr nah beieinander liegen, stammen sie wahrscheinlich vom selben Quark oder Gluon in der Kaskade ab. Außerdem können wir die Impulse der detektierten Teilchen in einem Bereich addieren und erhalten den Impuls des ursprünglichen Teilchens. So gehen wir die Kaskade quasi rückwärts entlang, bis wir bei den ursprünglichen Quarks und Gluonen angelangt sind.
Auf diese Art und Weise haben Forscher nun eine Eigenschaft der Quarks – ihre Masse – nachgewiesen. Wie macht sich die Masse der Quarks denn bemerkbar?
Aus dem Standardmodell der Teilchenphysik – einer Theorie, die alle uns bekannten Elementarteilchen und Kräfte zwischen ihnen beschreibt – wissen wir, dass es sechs verschiedene Quarks gibt, die alle eine spezifische Masse haben. Diese Massen hat man bislang allerdings nur indirekt gemessen, indem man das Verhalten von gebundenen Teilchen wie etwa Protonen beobachtet hat. Doch die ALICE-Kollaboration hat nun erstmals eine direkte Auswirkung der Masse von freien Quarks nachgewiesen.
Was genau haben die Forscher am ALICE-Experiment denn beobachtet?
Die Masse eines Teilchens wirkt sich auf die Verteilung der Spuren aus, die die Detektoren nach der Kollision aufzeichnen: So sagen theoretische Berechnungen vorher, dass es für schwere Teilchen sehr unwahrscheinlich ist, in einem bestimmten kegelförmigen Bereich um ihre Flugrichtung herum Energie in Form von neuen Teilchen abzustrahlen. So einen Bereich, der frei von Teilchen blieb, ließ sich jetzt am ALICE-Experiment für eine bestimmte Art von Quarks – die sogenannten Charm-Quarks – beobachten.
Lässt sich daraus dann auch die Masse der Charm-Quarks berechnen?
Die Beobachtungen decken sich ziemlich genau mit dem, was man anhand der indirekt bestimmten Masse der Quarks erwarten würde. Doch um die Masse aus den Kollisionen direkt zu erhalten, bräuchte man noch deutlich genauere Messungen. Ein nächster Schritt wäre erstmal, den Effekt auch für eine andere Art von Quarks – die sogenannten Beauty-Quarks – zu beobachten. Mit dem kürzlichen Update des LHC und seinen Detektoren könnte das nun gelingen. Denn zum einen wurde die Rate, mit der die Teilchenkollisionen aufgezeichnet werden, drastisch erhöht. Zum anderen wurden die Detektoren komplett erneuert, sodass man die erzeugten Teilchen viel genauer nachweisen und zurückverfolgen kann.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „Run 3 von ALICE am LHC“ im Zeitraum von Juli 2021 bis Juni 2024 mit rund 8 900 000 Euro.
Fördersumme: 8 894 698 Euro
Förderzeitraum: 01.07.2021 bis 30.06.2024
Förderkennzeichen: 05P21PBCAA, 05P21PDCA1, 05P21PMCAA, 05P21PMCA1, 05P21RFCAA, 05P21RFCA1, 05P21RFCA2, 05P21VHCA1,05P21VTCAA, 05P21WOCA1
Beteiligte Institutionen: Universität Bielefeld, Universität Bonn, Universität Münster, Universität Frankfurt am Main, Universität Heidelberg, Universität Tübingen, Technische Universität München
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/elementarteilchen-der-erste-direkte-nachweis/