Jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik

Franziska Konitzer

In einer großen Halle steht eine lange Röhre. Dabei handelt es sich um einen 120 Meter langen Vakuumtank, in dem die Kaonen zerfallen. Detektoren im Inneren des Tanks vermessen die Zerfallsprodukte.

Zwar gilt das Standardmodell der Teilchenphysik als vollständig, allerdings wissen Forscher, dass es nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Sie suchen daher nach einer Physik jenseits dieser Theorie, unter anderem mithilfe des Experiments NA62 am CERN. Dort könnten extrem seltene Teilchenzerfälle auf exotische Phänomene hindeuten und somit den Weg zu einer neuen Physik ebnen.

Das Standardmodell der Teilchenphysik gilt derzeit als das beste Werkzeug, um den Aufbau der Materie zu verstehen: Es beschreibt das Verhalten aller bekannten Teilchen und deren Wechselwirkungen. In zahllosen Experimenten hat sich die Theorie bereits bewährt – und dennoch sind sich Physiker einig, dass das Standardmodell überholt werden muss. Denn die Gravitation spielt darin bislang keine Rolle und so berücksichtigt es nur drei der insgesamt vier Naturkräfte. Infolgedessen liefert es beispielsweise keinerlei Hinweise auf die Dunkle Materie, die sich bislang lediglich über die Schwerkraft bemerkbar macht, und aus der ein Großteil der Materie im Universum bestehen soll.

Der Ausschnitt eines Teilchenbeschleunigers ist in seinem Tunnel gezeigt.

Der Teilchenbeschleuniger SPS

Wissenschaftler wollen das Standardmodell daher entweder erweitern oder aber durch eine neue, umfassendere Theorie ersetzen. Um Anhaltspunkte für ein überholtes Standardmodell zu erhalten, führen Physiker ausgeklügelte Experimente durch. Stimmen die Ergebnisse nicht mit den theoretischen Vorhersagen überein, würde dies auf eine Schwäche des Standardmodells hindeuten. Eine dieser Suchmaschinen für neue Physik befindet sich am Forschungszentrum CERN: Im Experiment NA62 untersucht ein Forscherteam beispielsweise extrem seltene Teilchenzerfälle, um das Standardmodell zu überprüfen.

„Bei NA62 beobachten wir elektrisch geladene Kaonen“, erzählt Rainer Wanke von der Universität Mainz. Er leitet die deutsche Forschergruppe, die sich im Rahmen der Verbundforschung des Bundesforschungsministeriums an NA62 beteiligt. Während die Bausteine der Atomkerne – Protonen und Neutronen – aus jeweils drei Quarks bestehen, sind Kaonen aus jeweils zwei Quarks aufgebaut. Sie sind relativ instabil und zerfallen nach ihrer Erzeugung binnen Bruchteilen von Sekunden in andere Teilchen. Wie genau ein solcher Zerfall vonstattengeht und welche Endprodukte dabei entstehen, kann das Standardmodell der Teilchenphysik theoretisch vorhersagen.

Ein extrem seltener Kaonenzerfall

Da Kaonen in der Natur nicht vorkommen, müssen die Forscher sie zunächst künstlich erzeugen. Dafür nutzen sie einen energiereichen Protonenstrahl, der vom Teilchenbeschleuniger SPS geliefert wird. Eigentlich dient SPS inzwischen als Vorbeschleuniger für den Large Hadron Collider. Die Protonen im Strahl haben somit bei Weitem nicht die Energien, die der LHC erreicht. Dies ist für die Produktion der Kaonen aber auch gar nicht notwendig: Der Protonenstrahl des SPS wird auf ein ruhendes Ziel aus Beryllium gelenkt und durch die Kollision entsteht eine Vielzahl von Teilchen, darunter auch die positiv geladenen Kaonen.

Eine Grafik zeigt schematisch den Aufbau und die Verteilung der verschiedenen Beschleunigeranlagen am Forschungszentrum CERN. Der LHC ist dabei der größte Beschleuniger. SPS kreuzt  den LHC an zwei Stellen und ist wesentlich kleiner.

Die Beschleunigeranlagen am CERN

Die Forscher lenken die Kaonen durch einen hundert Meter langen Vakuumtank, wo ein Teil der Teilchen nach kurzer Zeit zerfällt. Rainer Wanke und seine Kollegen interessieren sich allerdings nur für eine bestimmte Zerfallsart: Ein Kaon zerfällt in ein Pion – ebenfalls ein aus zwei Quarks bestehendes Teilchen – sowie zwei Neutrinos. „Dieser Zerfall ist laut dem Standardmodell extrem selten“, sagt Wanke. „Bei zehn Milliarden Zerfällen soll er demzufolge nur ein einziges Mal vorkommen.“ Die Aufgabe der Forscher lautet nun, die theoretisch vorhergesagte Zerfallsrate mithilfe des NA62-Experiments präzise zu überprüfen. Zerfallen die positiv geladenen Kaonen sehr viel häufiger oder sehr viel seltener in ein Pion und zwei Neutrinos, würde dies darauf hindeuten, dass das Standardmodell in dieser Hinsicht eine Schwäche aufweist.

Im Detektor kommt es daher entscheidend darauf an, alle Zerfälle möglichst vollständig zu erfassen. „Das verräterische Signal für diesen Zerfall ist ein einzelnes Pion, da wir die beiden Neutrinos, die auch entstehen, nicht messen können. Sie wechselwirken kaum mit Materie“, beschreibt Wanke. „Allerdings zerfällt das Kaon ja meistens in ganz andere Teilchen – beispielsweise in ein Pion und zwei Gammateilchen. Deshalb müssen wir aufpassen, dass uns bei den Messungen keines der Gammateilchen verlorengeht, da wir sonst fälschlicherweise annehmen würden, dass es sich dabei um unseren gesuchten Zerfall handelt.“

Veto-Detektoren für NA62

Um unter Milliarden von Zerfällen einige wenige bestimmte Zerfälle zuverlässig herauszufischen, besteht NA62 größtenteils aus sogenannten Veto-Detektoren. Das sind Teilchendetektoren, die beispielsweise Gammateilchen nachweisen und damit zeigen, dass es sich bei einem Zerfall eben nicht um den gesuchten Zerfall gehandelt hat. Auch die Gruppe um Rainer Wanke hat einen solchen Detektor gebaut und zum Experiment beigesteuert. Er reagiert besonders empfindlich auf Myonen. Das sind geladene Teilchen, die dem Elektron ähneln, aber sehr viel massereicher sind. Sie entstehen bei Kaonzerfällen besonders häufig.

Seit gut zwei Jahren verrichtet der Myonen-Veto-Detektor bei NA62 zuverlässig seine Arbeit. Die Wissenschaftler sind derweil damit beschäftigt, die Daten aus dem Jahr 2016 auszuwerten. „Aus diesen Daten erwarten wir laut dem Standardmodell – statistisch gesehen – genau ein Ereignis“, so Wanke. Die Aussagekraft ist damit natürlich noch begrenzt, weshalb die Wissenschaftler künftig sehr viel mehr Zerfälle untersuchen wollen. Derzeit ist das Experiment in Betrieb und auch nach der diesjährigen Winterpause gehen die Messungen im Jahr 2018 weiter. Laut Rainer Wanke könnten die Wissenschaftler gegen Ende 2018 genügend Daten gesammelt haben – und wissen, ob der seltene Kaonzerfall tatsächlich das Zeug hat, das Standardmodell ins Wanken zu bringen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/jenseits-des-standardmodells-der-teilchenphysik/