„Wir lassen uns gerne von neuen Ergebnissen überraschen“

Dirk Eidemüller

Große radförmige Maschine

CERN

Der weltweit stärkste Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN bei Genf – kurz LHC, wird derzeit in einer mehrjährigen Betriebspause aufgerüstet. Nach dem Ausbau sollen dort bis zu fünf Mal mehr Kollisionen stattfinden, doch das treibt die heutige Detektortechnik an ihre Grenzen. Deswegen wurde unter anderem das New Small Wheel entwickelt, das nach dem Ausbau auf den beiden Seiten des ATLAS-Detektors sitzen wird. Es soll besonders durchdringende Teilchen registrieren und zugleich hohe Strahlenhärte sowie eine extreme Genauigkeit aufweisen. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Otmar Biebel von der LMU München, was es mit diesem Detektorteil auf sich hat.

Welt der Physik: Wie leistungsfähig wird der LHC nach seinem Umbau sein?

Porträt des Wissenschaftlers Otmar Biebel

Otmar Biebel

Otmar Biebel: Mit den kommenden Umbauten zum High-Luminosity LHC, oder kurz HiLumi LHC, soll sich der Teilchenbeschleuniger selbst gleich noch mehrfach übertreffen. Derzeit treffen pro Sekunde rund dreitausend hochenergetische Teilchen auf jeden Quadratzentimeter des Detektors. Nach dem Umbau wird sich die Anzahl der Teilchenkollisionen um rund einen Faktor Fünf erhöhen. Das erhöht nicht nur die ohnehin schon riesige Datenrate, die die Detektoren verarbeiten müssen. Dadurch steigt auch die Strahlenbelastung an und durch diese Dauerberieselung mit hochenergetischen Teilchen kann die filigrane Technik im Laufe der Zeit beschädigt werden, bis sie schließlich ausfällt. Deswegen nutzen wir die Umbauphase auch, um viele der Komponenten zu erneuern und durch Neuentwicklungen zu ersetzen. Dazu gehört auch unser Projekt, der Myonendetektor New Small Wheel von ATLAS – einem der beiden großen Universaldetektoren am LHC.

Wie ist ein solcher Universaldetektor wie ATLAS aufgebaut?

Der Aufbau eines solchen Detektors folgt üblicherweise dem Zwiebelschalenprinzip: Ganz innen, nah am Kollisionspunkt der Teilchen, sitzen besonders filigrane, aber belastbare Komponenten. Sie zeichnen die Spuren der Kollisionsfragmente auf, ohne den Teilchen zu viel Widerstand entgegenzusetzen. Weiter außen sitzen dann absorbierende Detektoren, welche die einfliegenden Teilchen abstoppen, um ihre Energie aufzuzeichnen. Da die Teilchensorten, die bei den Kollisionen entstehen, die verschiedene Detektormaterialien jeweils unterschiedlich weit durchdringen, gibt es verschiedene solcher Detektoren, die einander zylinderförmig umschließen.

Und was hat es mit dem New Small Wheel auf sich, das Sie und Ihre Kollegen entwickelt haben?

Es gibt eine besonders durchdringende Teilchenart, die durch all diese Detektoren hindurchfliegt – Myonen, die beispielsweise auch Teil der kosmischen Strahlung sind. Myonen besitzen die gleichen physikalischen Eigenschaften wie Elektronen, sind jedoch rund zweihundertmal schwerer und damit sehr viel durchdringender als Elektronen. In einem Teilchendetektor sind sie typischerweise die Teilchen, die übrig bleiben, wenn alle anderen bereits durch verschiedene Materialien gestoppt wurden. Im äußersten Bereich des ATLAS-Detektors befinden sich deshalb drei Myonendetektoren, die wie ein Rad den Strahlring umschließen. Die innen liegenden Myonendetektoren nennen wir Small Wheel, die beiden äußeren Big Wheel, weil sie etwas größer sind. Die inneren Detektoren haben wir nun für den HiLumi LHC zum neuen Myonendetektor New Small Wheel weiterentwickelt.

Radförmige Maschine wird mit einem Kran angehoben

Installation des New Small Wheel

Welche Innovationen stecken im New Small Wheel?

Wir haben hierfür zwei Detektortypen kombiniert, sogenannte Small-Strip Thin Gap Chambers, kurz sTGC-Detektoren, und sogenannte Micromegas-Detektoren. Diese Detektoren wurden an der Universität München mitentwickelt und stellen eine interessante Technologie dar, die auch abseits von Teilchenbeschleunigern zum Einsatz kommen kann. Es gibt einerseits Versuche mit dem Micromegas-Detektor in der Strahlentherapie, um das Wachstum oder das Schrumpfen von Tumoren zu beobachten. Andererseits lassen sich mit solchen Detektoren auch die Pyramiden von Gizeh durchleuchten, indem man die Myonen aus der kosmischen Strahlung nutzt.

Welche Anforderungen gibt es für die neue Messtechnik?

Der Detektor soll die große Mehrzahl an uninteressanten Ereignissen automatisch aussortieren. Hierfür sorgt eine ebenfalls neuentwickelte Elektronik, die das gigantische Datenvolumen auf eine handhabbare Größe reduziert. Denn nur wenige Reaktionen mit besonderen Charakteristika kommen für spannende Neuentdeckungen infrage. Die meisten Kollisionen produzieren nur die hinlänglich bekannten Elementarteilchen, die bereits eingehend untersucht sind. Um diese wenigen spannenden Kandidaten der detektierten Myonen präzise untersuchen zu können, soll das New Small Wheel die Spuren der Myonen mit einer sehr hohen Genauigkeit aufnehmen.

Wie wird das ermöglicht?

Dafür setzt sich der radförmige Detektor, der einen Durchmesser von rund zehn Metern hat, aus 64 Modulen mit einer Größe von zwei und drei Quadratmetern zusammen, in denen sTGC- und Micromegas-Detektoren kombiniert wurden. Jedes der Module ist so eben, dass seine größte Krümmung nicht einmal eine Haaresbreite beträgt. Dafür mussten wir die Module auf einem 35 Zentimeter dicken, massiven Granittisch zusammenbauen, der extrem glattgeschliffen war und auf den man sich trotzdem nicht einmal aufstützen durfte. Bei unseren ersten Tests haben die neuen Module bereits gut funktioniert.

Was erhoffen sich die Teilchenphysiker vom HiLumi LHC?

Vielleicht zeigen sich erste Spuren eines neuen, bislang unbekannten Teilchens. Vielleicht finden sich immerhin indirekte Anzeichen, dass die bisherige Theorie der Elementarteilchen, das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, doch nicht komplett ist. Solche Indizien hoffen wir vor allem bei Präzisionsmessungen an bereits bekannten, schweren Teilchen zu finden – etwa am Higgs-Boson, des letzten nachgewiesenen Elementarteilchens, das erst Jahrzehnte nach seiner Postulierung im Jahr 2012 am CERN entdeckt wurde. Es gibt verschiedene Theorien und verschiedene hypothetische Teilchen, die wir entdecken könnten. Aber zunächst heißt es für uns, die Detektoren fertigzustellen, und dann lassen wir uns gerne von neuen Ergebnissen überraschen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „Run 3 von ATLAS am LHC“ im Zeitraum von Juli 2021 bis Juli 2024 mit rund 6 080 000 Euro.

Fördersumme: 6 081 914 Euro

Förderzeitraum: 01.07.2021 bis 30.06.2024

Förderkennzeichen: 05H21UMCA1, 05H21VFCA2, 05H21WMCA1, 05H21WWCA1

Beteiligte Institutionen: Universität Mainz, Universität Freiburg, LMU München, Universität Würzburg

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/wir-lassen-uns-gerne-von-neuen-ergebnissen-ueberraschen/