Deterministisches Chaos
Beim deterministischen Chaos wird das Verhalten von Systemen unvorhersagbar, obwohl es durch bekannte Bewegungsabläufe vorherbestimmt (= determiniert) ist. Denn kleine Anfangsstörungen verstärken sich hier mit Laufe der Zeit.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts feierte die Astronomie große Erfolge. Die Planeten Neptun und Uranus wurden aufgrund von Abweichungen zwischen berechneten und beobachteten Bewegungsdaten des Jupiters und des Saturns vorhergesagt und entdeckt. Daraufhin stellte König Oscar II. von Schweden die Preisaufgabe, die Stabilität des Sonnensystems zu beweisen. Der Preis ging schließlich an den französischen Mathematiker Henri Poincaré, allerdings für den Nachweis, dass dieser Beweis nicht zu führen ist. Poincaré entdeckte die so genannten hyperbolischen Strukturen im Raum der Orte und Geschwindigkeiten (Phasenraum) der Planeten, die eine langfristige Verfolgung der Planetenbahnen praktisch unmöglich machen: Die Planetenbewegung erweist sich auf großen Zeitskalen als chaotisch.
Was zu Poincarés Zeiten noch als skurrile Besonderheit planetarer Bewegung erschien, erwies sich bald als Wesenselement nichtlinearer Naturgesetze. Fast ein Jahrhundert später fand man dieses chaotische Verhalten in nahezu allen Bereichen der Naturwissenschaften: Umfangreiche experimentelle und numerische Studien in biologischen, ökologischen, chemischen, physikalischen und anderen Systemen brachten immer wieder dieselben irregulären, wie zufällig erscheinenden Bewegungen, dieselbe lang- oder auch schon kurzfristige Unvorhersagbarkeit ans Licht. Chaos ist überall! Das zukünftige Wetter beispielsweise ist im Prinzip berechenbar, aber mit guter Genauigkeit eben nur für einen kurzen Zeitraum.
Bemerkenswert an dieser Art von Chaos ist, dass es nicht aus einer Vielzahl von unbekannten Einflüssen entsteht, wie etwa das Rauschen in elektrischen Stromkreisen, das durch die ungeordneten Bewegungen von Myriaden von Elektronen verursacht wird. Vielmehr ist es eine Konsequenz des ansonsten völlig deterministischen (= vorherbestimmten) Bewegungsablaufs. Wie lässt sich das begreifen? Stellen wir uns zunächst einen Billardtisch mit zwei Kugeln in einiger Entfernung voneinander vor. Die eine der Kugeln wird nun in zwei verschiedenen Experimenten unter leicht verändertem Winkel, aber jeweils von gleicher Position aus, auf die andere gestoßen. Nach der jeweiligen Kollision ist der Winkel zwischen den beiden Bahnen der einen Kugel deutlich größer als zuvor. Wenn wir an kollidierende Gasatome im Raum denken, wird jede Winkelstörung ihrer Flugbahn bei jedem weiteren Stoß mit anderen Gasatomen vergrößert. Sehr bald ist die Information über die ursprüngliche Stoßrichtung völlig verloren gegangen. Die beschriebenen Phänomene bezeichnet man als deterministisches Chaos, das zwei charakteristische, definierende Merkmale hat: Zum einen verstärkt sich fast jede noch so kleine Anfangsstörung eines chaotischen Systems fortlaufend selbst, zum anderen wird dabei ein gewisser, für alle Systemteile fester Wertebereich nicht verlassen (zum Beispiel 360 Grad für den Stoßwinkel). Beides zusammen führt zu unregelmäßigen und unvorhersagbaren Bewegungen, die wie zufällig aussehen.
Seltsam attraktiv
Selbst in diesem Chaos entstehen im Laufe langer Zeiten gewisse raumzeitliche Muster, die im allgemeinen fraktale Struktur haben: Man nennt sie seltsame Attraktoren. Obwohl langfristige Vorhersagen des Bewegungsablaufs, selbst mit massiver Computerunterstützung, praktisch unmöglich sind, haben wir inzwischen tiefe Einblicke in die Eigenschaften solcher chaotischen Vorgänge erhalten und beispielsweise gelernt, die Selbstähnlichkeit und den fraktalen Charakter ihrer Attraktoren zu verstehen. Das Zauberwort heißt hier „Renormierung“, mit deren Hilfe Mitchell Feigenbaum die Universalität der Natur des Chaos zeigen konnte. Inzwischen ist diese Erkenntnis in vielen unterschiedlichen Situationen experimentell bestätigt worden. Auch hier herrschen also wieder Universalität und Skalengesetze. Somit steht ein neues methodisches Arsenal zur Verfügung, das die Lösung vieler Strukturbildungsfragen in Natur und Technik ermöglichen wird.
Ein charakteristisches Anzeichen für chaotisches Verhalten von Systemen ist, dass ihr Zeitablauf nur durch ein Kontinuum von periodischen Bewegungen beschrieben werden kann. Die Bewegungsgleichungen sind rein deterministisch und ohne Zufallselemente, aber eben nichtlinear. Chaos bedarf nur weniger Freiheitsgrade. Doch ist es nicht auf einfache Systeme mit wenigen Freiheitsgraden beschränkt.
Zufall und Statistik
Zufall und Statistik begegnen uns in der Natur auf dreierlei Weise.
- Da ist erstens der statistische Charakter der Quantenmechanik, worüber uns die ihrerseits strengen Gesetze für Wahrscheinlichkeitsamplituden Auskunft geben.
- Da ist zweitens die deterministisch-chaotische Bewegung, die als Folge nichtlinearer klassischer Naturgesetze auftritt, mit allen bekannten Zufallselementen wie Unvorhersagbarkeit und Unregelmäßigkeit im Ablauf.
- Da ist drittens der Zufall, der aus dem Zusammenspiel vieler Einzelteile (Elektronen, Moleküle, Körner, Staubbrocken im Saturnring, Sternhaufen, usw.) entspringt.
Wir wissen inzwischen, dass es für viele statistische Phänomene makroskopischer Art unerheblich ist, ob sich die beteiligten Partikel nach quantenmechanischen oder klassischen, nichtlinearen Gesetzen bewegen. Allein die Vielzahl der beteiligten Teilchen bewirkt makroskopisch zufälliges Verhalten, das wir anschaulich als „Rauschen“ bezeichnen.
Wie vor kurzem entdeckt wurde, kann das Rauschen Resonanzschwingungen und gerichtete Bewegung verursachen. Zudem beeinflusst es maßgeblich den Ablauf aller chemischen Reaktionen und es könnte auch für die Arbeitsweise der Muskulatur relevant sein.
Anwendungen
Die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse zur Analyse von Chaos werden zunehmend auch außerhalb der Physik genutzt, etwa in der Medizin bei der Auswertung von Elektrokardiogrammen und Elektroenzephalogrammen, sowie bei Qualitätskontrollen oder bei der Analyse von Börsenkursen. Deterministisches Chaos wird möglicherweise bei zukünftigen schnellen Computerchips, die mit „ballistischen“ Elektronen arbeiten, eine wichtige Rolle spielen.
Denkschrift zum Jahr der Physik
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/chaos-und-ordnung/deterministisches-chaos/