Fraktale Welt
Fraktal heißen Objekte, bei denen das Ganze seinen Bestandteilen ähnelt. Das ist bei Bäumen der Fall, bei Kristallen, langen Polymermolekülen, aber auch Ansammlungen von Galaxienhaufen.
Im Jahre 1926 hatte sich Lewis Fry Richardson – ein genialer Physiker und Meteorologe, der sich dann ganz dem Studium der Vermeidung bewaffneter Konflikte zuwandte – die Frage gestellt, ob turbulenter Wind eine Geschwindigkeit hat. Diese scheinbar naive Frage führt sofort auf das Problem, wie man die Geschwindigkeit des Windes messen soll und ob das Resultat vom Messverfahren, insbesondere von der Größe des verwendeten Windrades, abhängt. Das ist in der Tat der Fall: Die turbulente Strömung zeigt ein räumlich und zeitlich sehr kompliziertes Muster. Sie ist fraktal, wie wir heute sagen.
Der Mathematiker Benoit Mandelbrot hat um 1970 den Begriff Fraktal geprägt, der zum Synonym für „natürlich“ erscheinende Muster geworden ist, wie sie sowohl in der Natur als auch in der mathematischen Theorie vorkommen. Damit werden ausgedehnte Objekte bezeichnet, denen man eine „gebrochene“, also auch nicht ganzzahlige räumliche Dimension zuordnen kann. Wie bestimmt man sie? Dazu denken wir uns um einen beliebigen, festgehaltenen Punkt eine Kugel mit Radius R gelegt. Variieren wir den Radius R dieser gedachten Kugel, so würde sich die jeweils darin befindliche „Masse“ eines gewöhnlichen dreidimensionalen Objektes wie R3 ändern. Für fraktale Objekte hingegen ist das Ergebnis Rd, wobei die Dimension d einen nicht ganzzahligen Wert annehmen kann.
Die Gestaltbildung in der Natur ist fast immer mit solchen nicht ganzzahligen, fraktalen Dimensionen d verknüpft. Lange Polymermoleküle sind fraktal. Eine gezackte Küstenlinie hat typischerweise eine fraktale Dimension d, die größer als 1 ist. Die Wirbelintensität in Luftturbulenzen wird durch ein Fraktal charakterisiert. Die Verästelung eines Baumes oder der Luftkanäle in unserer Lunge sind weitere Beispiele fraktaler Strukturen. Ja selbst die Ansammlungen von Sternhaufen und Galaxien im Kosmos erweisen sich als fraktal. Betrachten wir ein fraktales Objekt unter veränderlichem Maßstab wie mit einem Zoom-Objektiv, so stellen wir fest, dass innerhalb weiter Grenzen keine Längenskala besonders ausgezeichnet ist: Ein beliebiger Teil des Objektes sieht, bei entsprechender Vergrößerung, im Wesentlichen so aus wie das ganze Objekt. Wir sprechen deshalb von der Selbstähnlichkeit der fraktalen Strukturen. Ohne weitere äußere Anhaltspunkte oder Maßstäbe können wir aus der bloßen geometrischen Form die absolute Größe des Objektes nicht erkennen.
Vergleicht man ein selbstähnliches physikalisches Fraktal mit einer Flüssigkeit oder einem Magneten, deren Korrelationslänge am kritischen Punkt eines Phasenübergangs über alle Grenzen anwächst, so stellt man fest, dass diese Vielteilchensysteme völlig analoges Skalenverhalten zeigen. Rätselhaft ist bei vielen fraktalen Strukturen allerdings immer noch, von welchen Eigenschaften des Systems die fraktale Dimension abhängt. Bei der Untersuchung turbulenter Strömungen, wie sie in Rohren oder in der stürmischen Atmosphäre auftreten, ergaben sich jüngst erste Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den nichtlinearen Bewegungsgleichungen und den resultierenden fraktalen Strukturen. Es bleibt aber eine wissenschaftliche Herausforderung, die fraktale Welt, ausgehend von den Naturgesetzen und den atomaren Wechselwirkungen, zu verstehen und zu berechnen.
Denkschrift zum Jahr der Physik
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/chaos-und-ordnung/fraktale/