Selbstorganisation und Strukturbildung
Selbstorganisation und Strukturbildung sind charakteristische Eigenschaften von Vielteilchensystemen; sie ergeben sich aus dem Zusammenwirken einer ungeheuer großen Zahl von Atomen oder Molekülen. Die dabei waltenden Ordnungsprinzipien und Naturgesetze sind erst in den letzten Jahrzehnten erkannt und zumindest teilweise verstanden worden.
Eisblumen auf den Fensterscheiben, schimmernd gefroren der See, funkelnder Rauhreif im ersten Morgenlicht – wer könnte sich dem Zauber dieses winterlichen Schauspiels entziehen, dargeboten von den beiden klassischen Elementen Luft und Wasser! Uns beeindruckt die unendliche Vielfalt der Naturerscheinungen: Nordlichter und zuckende Blitze, bizarre Wolkentürme und mäandernde Flüsse, Sanddünen und Meereswellen. Sie wecken unsere Neugier und regen uns zum Nachdenken über unsere Rolle im Naturgeschehen an. Unser wachsendes Verständnis dieser Erscheinungen hat durchaus praktischen Nutzen und schafft neue Anwendungsmöglichkeiten.
Selbstorganisation und Strukturbildung sind charakteristische Eigenschaften von Vielteilchensystemen; sie ergeben sich aus dem Zusammenwirken einer ungeheuer großen Zahl von Atomen oder Molekülen. Die dabei waltenden Ordnungsprinzipien und Naturgesetze sind erst in den letzten Jahrzehnten erkannt und zumindest teilweise verstanden worden. Wenn Wasser gefriert oder verdampft, Gletscher fließen, Wellen, Wasserwirbel, Wolkenmuster und Wanderdünen sich ausbreiten, dann erfolgt dies nach Regeln, die den zeitlichen Ablauf komplexer Vorgänge kontrollieren, also Ordnungsprinzipien der Bewegung sind. Selbst scheinbar zufälliges Chaos folgt solchen Regeln: Es ist deterministisch und lässt sich bis zu einem gewissen Grad quantitativ fassen.
Bemerkenswerterweise scheint es eine Universalität der Strukturbildungsgesetze zu geben: Zustandsänderungen völlig verschiedener physikalischer, chemischer oder auch biologischer Systeme laufen nach gleichen Gesetzmäßigkeiten ab, die wir auf wenige wesentliche Merkmale der beteiligten Stoffe zurückführen und in mathematische Formeln fassen können. Wir erhalten damit tiefe Einsichten in mechanische, chemische, elektrische und andere Materialeigenschaften. Hierdurch geben wir der wissenschaftlichen Erkenntnis über die alltäglichen Dinge in unserer Umwelt ein festes Fundament, auf dem die Ingenieure die technischen Nutzanwendungen heute und in Zukunft schaffen.
Lebende Strukturen, Strukturen des Lebens
Einen überwältigenden Reichtum an Formen der Selbstorganisation finden wir in der Biologie. Ausgehend von einfachen Strukturbildungsmechanismen der Zellmembranen sehen wir komplexe Selbstorganisation in Bakterienkolonien, kollektive Effekte in Vogel- und Fischschwärmen sowie in Ameisenkolonien. Auf molekularer Ebene beobachten wir Proteinfaltung, enzymatische Prozesse, Entstehung und Wirken molekularer Motoren wie Myosin und Actin bei der Muskelbewegung. Eine Vielzahl von Quanteneffekten, etwa bei der Energieversorgung der Zellen und der biologischen Informationsverarbeitung, sind eine wissenschaftliche Herausforderung für die Physiker. Das wird auf neue experimentelle Methoden und theoretische Berechnungsverfahren führen, mit deren Hilfe sich molekularbiologische Fragen beantworten lassen.
Die Zukunft dieses dynamischen Forschungsgebietes der Selbstorganisation und Strukturbildung, der Skalenhierarchien und Nichtlinearitäten, der Universalität und des Chaos wird viele weitere, auch für die Technik nützliche Erkenntnisse zutage fördern, etwa über Strukturen und Eigenschaften von Materialien oder den Ablauf von physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen. Wir sollten uns aber auch einfach erfreuen dürfen an diesem großen, blühenden Strauß von komplexen Phänomenen. Ihre scheinbare Regellosigkeit birgt tiefe innere Gesetzmäßigkeiten, deren Schönheit sich immer deutlicher vor uns entfaltet.
Denkschrift zum Jahr der Physik
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/chaos-und-ordnung/selbstorganisation/