Warum ist Eis unter Brücken so dünn?
Jens Kube
Wenn Seen und Flüsse zufrieren, dann beginnt bei den potenziellen Eisläuferinnen und Eisläufern die Ungeduld: Wann werden die Natureisflächen von den Behörden freigegeben? Ein großes Problem beim sicheren Eislaufen in der freien Natur sind vor allem die dünnen Bereiche, die es an einigen Stellen gibt – besonders unter Brücken.
Um zu verstehen, warum das Eis unter Brücken so dünn ist oder das Wasser unter den Bauwerken gar nicht erst gefriert, muss man betrachten, welche Bedingungen überhaupt notwendig sind, damit Seen und Flüsse gefrieren. Als erste, offensichtliche Bedingung gilt, dass die Temperatur des Wassers kleiner als 0°C sein muss. Dies wird dann erreicht, wenn die Umgebungstemperatur der Luft ebenfalls unter 0°C liegt und zusätzlich keine Strahlungswärme von der Sonne das Wasser erwärmt. Zu Beginn einer Eisphase ist das Wasser natürlich noch etwas wärmer als die umgebende Luft, da die Wärmekapazität des Wassers viel Größer als die der Luft ist. Das Gewässer muss durch Energieabgabe an die Umgebung auf eine Temperatur unter 0°C kommen.
Strahlungskühlung und Strahlungsheizung
Eiswetter ist in unseren Breiten meistens auch mit klarem Himmel verbunden. Dies bewirkt einen ausgeprägten Tagesgang der Lufttemperatur: Tagsüber erwärmt die Sonne den Boden (und das Wasser), in der Nacht wird die Wärme von Boden und Wasser abgestrahlt und nicht von Wolken zurückgehalten. Die Situation unter einer Brücke ist etwas anders: Die Brücke strahlt als „schwebender Boden“ mit ihrer eigenen Temperatur nicht nur nach oben, sondern auch nach unten auf das Wasser bzw. Eis ab. In der Nacht kühlt das Wasser so wesentlich weniger ab als im freien Gewässer. Hinzu kommt ein lokalen Treibhauseffekt: Die abgestrahlte Wärme des Wassers erwärmt die Brücke zusätzlich, sodass das Bauwerk eine Wärmeisolierung darstellt.
In Städten führen Brücken auch häufig Ver- und Entsorgungsleitungen für Wasser, dessen Temperatur über 0°C bleibt. So werden diese Brücken zusätzlich von innen her geheizt: Ein weiterer Aspekt, der zur Wärmeabstrahlung an das Gewässer führt.
Nun könnte man argumentieren, dass im Gegenzug tagsüber weniger Sonneneinstrahlung auf den Bereich des Wassers wirkt, der unter der Brücke im Schatten liegt. Da jedoch die Luft selbst tagsüber sehr warm ist, kann das Wasser unter der Brücke auf keinen Fall unter die Lufttemperatur, die meist knapp über oder nur wenig unter dem Gefrierpunkt liegt, gekühlt werden. Der Isoliereffekt während der Nacht überwiegt. Außerdem ist im Winter die Nacht viel länger als der Tag.
Düseneffekt
Als zweite Bedingung für eine stabile Eisschicht ist stehendes oder nur langsam fließendes Wasser notwendig. Unter Brücken wird diese Bedingung schwieriger erreicht als außerhalb.
Jede Brücke wirkt für die Luftströmung des normalen Windes wie eine Düse: Die Windgeschwindigkeit wird unter Brücken zum Teil erheblich erhöht. Dies bewirkt mehrere eisverhindernde Effekte: Es bilden sich stärkere Wasserwellen aus als außerhalb der Brücken, die das Festfrieren der Eiskristalle verhindern. Der Luftzug erleichtert das sublimieren von Eis (das ist der direkte Übergang vom festen Eis zum Wasserdampf), sodass neu entsehende Eiskristalle kurzlebiger sind.
Brücken sind außerdem meist an Engstellen der Gewässer eingerichtet. Engstellen bewirken auch bei Wasserströmungen einen Düseneffekt. Handelt es sich um ein Fließgewässer (auch wenn die Strömungsgeschwindigkeit gering ist), dann wird die Strömung unter der Brücke erhöht. Dieser Effekt wird bei Brücken mit Pfeilern noch zusätzlich verstärkt. Durch die stärkere Strömung vermischt sich das kalte Oberflächenwasser mit dem tieferen, wärmeren Wasser. Wasser hat ja bekanntlich seine größte Dichte bei 4°C, 0°C kaltes Wasser ist also leichter als das 4°C warme Wasser, das sich auch im Winter unter dem Eis befindet.
Biologie
Wasservögel halten bestehende Löcher in Eisdecken durch Umherschwimmen, paddeln oder gar Flügelschlag möglichst lange offen. So wird der rein physikalische Effekt des Frostschutzes unter Brücken durch die Tierwelt noch verstärkt, um Zugang zu den Nahrungsquellen im Wasser zu erhalten.
Weitere Gefahrenstellen
Auch Engstellen von Fließgewässern, über denen es keine Brücken gibt, neigen dazu, dünnes Eis zu besitzen. Hier gilt der Strömungseffekt wie unter Brücken genauso.
Bisweilen haben Seen unsichtbare Zuflüsse, die wärmer als die Umgebung sein können (Kläranlagen, Kühlwasser von Kraftwerken) und an unvorhersehbaren stellen dünne Eisdecken oder gar Löcher im Eis erzeugen.
Insgesamt sind all diese Faktoren in natürlichen Gewässern der Grund dafür, dass die Behörden mit der Freigabe sehr lange warten. Eis trägt Menschen schon ab einer Dicke von wenigen Zentimetern. Allerdings kann man erst sicher sein, dass auch die dünnen Stellen dick genug sind, wenn an Probestellen die Eisdicke deutlich über 10, in den meisten Gemeinden sogar über 12 cm liegt.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/eis-unter-bruecken/