Warum es immer wieder falsche Abseitsentscheidungen geben wird

Metin Tolan

Spieler mit Ball

In der EM-Gruppenphase 2008 gab es recht gute Spiele mit viel Dramatik und Toren. Aber es gab auch schon – wie immer – sehr viele umstrittene Entscheidungen, wobei die Abseitspfiffe von Linienrichtern immer besonders umstritten und häufig auch entscheidend sind. So hat Luca Toni gegen Rumänien wohl ein reguläres Tor erzielt, doch wurde ihm dies vom Linienrichter wegen Abseitsstellung aberkannt. Auch die Griechen ärgern sich darüber, dass ihr Tor im Spiel gegen Russland wegen einer Abseitsstellung abgepfiffen wurde und sie nun bereits als amtierender Titelträger ausgeschieden sind. Die Liste dieser Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Was ist also so schwierig daran, eine Abseitsstellung genau zu erkennen?

Zunächst wollen wir aber einmal kurz die Entwicklung dieser merkwürdigen Abseitsregel nachzeichnen. Im Jahre 1863 beschloss der internationale Fußballverband, das erste Fußballreglement zu verfassen. Dieses sammelte alle Spielgewohnheiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte bewährt hatten, an. Darunter befand sich eine sonderbare Norm, welche jeden Angreifer bestrafte, der sich weiter vorne als der Ball befand. Sie wurde als „Regel 11“ aufgenommen und heißt seitdem die „Offside-Rule“. Die Reglementsverfasser kannten den tiefen Grund dieser Regel nicht. Wie und warum entstand eine solch merkwürdige Gewohnheit? Die Fußballtheorie klärt uns auf.

Die Abseitsregel diente dazu, den Vorwärtspass zu verhindern und die Verteidigung zu organisieren. Der Ballführende Spieler wurde dadurch gezwungen, unterwegs zum Tor einem Verteidiger zu begegnen. Diese Regel ist für einen Schiedsrichter relativ einfach zu handhaben, hat sich im Spiel aber nicht bewährt, da sie das Spiel völlig in eine Angreifende und ein Verteidigende Mannschaft teilt und somit schöne Spielzüge unmöglich macht. Im Eishockey wird diese Abseitsregel aber immer noch praktiziert. Im Fußball hingegen hat man schon nach drei Jahren, also im Jahre 1866, gehandelt und die Regel entscheidend verändert. Ein Angreifer befindet sich nun im Abseits, wenn er sich zum Zeitpunkt des Zuspiels näher an der Torlinie als drei Gegenspieler befindet. Einer von diesen drei Gegenspielern ist dabei in der Regel der Torwart. Diese Abseitsregel bevorzugt ein 1-2-7 oder 2-3-5-System, denn der zweite Verteidiger definiert die Abseitslinie. Zwei Verteidiger reichen daher oft aus, um alle Angreifer zu stoppen.

Durchschnittliche Anzahl der Tore, aufgetragen gegen die Saison. 1912/13 lag sie bei etwa 3, fiel dann bis 1923/24 auf etwa 2,5. Dann steiler Anstieg auf 3,7 1925/26, leichte Schwankungen mit Spitze bei 4 Toren um 1930/31. Von da an bis 1949/50 fiel die Anzahl mit leichten Schwankungen relativ gleichmäßig auf etwa 2,7.

Pro Spiel erzielte Tore in der Englischen Liga

Im Jahre 1925 wurde dann die im Wesentlichen noch heute gültige Abseitsregel festgelegt. Ein Angreifer befindet sich im Abseits, wenn er sich zum Zeitpunkt des Zuspiels näher an der Torlinie als zwei Gegenspieler befindet. Einer von diesen zwei Gegenspielern ist dabei in der Regel der Torwart. Die Abseitsregel von 1925 erzwang andere Abwehrstrategien, da nun der vorletzte Abwehrspieler nicht mehr die Abseitslinie definiert und ein einzelner Spieler leicht überlaufen werden kann. Aus dem 2-3-5-System wurde ein Mittelfeldspieler nach hinten beordert und es ergab sich das 3-2-2-3-System oder „WM-System“, wie es bis in die 50er Jahre hinein praktiziert wurde. Danach wurden die modernen 4-3-3 und 4-4-2 Systeme entwickelt und von fast allen Mannschaften übernommen. Man erkennt also, dass die Abseitsregel das Fußballspiel entscheidend geprägt hat. Dies ist auch an der Torstatistik der Englischen Profiliga aus der Zeit vor 1925 und danach zu sehen.

Weil die Abseitsregel für das Spiel sehr wichtig ist und wegen der Tatsache, das Abseitsstellungen bei fast jedem Angriff und damit sehr häufig auftreten können, ist es besonders wichtig, dass diese Regel vom Schiedsrichtergespann korrekt umgesetzt wird. Dabei haben wir noch nicht einmal all die Feinheiten und Ausnahmen wie etwa „passives Abseits“ etc. diskutiert. Dies soll hier auch nicht weiter interessieren, obwohl gerade diese „Feinheiten“ die Umsetzung der Abseitsregel für die Schiedsrichter nochmals deutlich verkompliziert.

Die erste Schwierigkeit, die ein Linienrichter beim Erkennen einer Abseitsstellung überwinden muss, ist die eigene Reaktionszeit. Wenn wir davon ausgehen, dass im besten Fall etwa 5/100 Sekunden vergehen müssen, bis wir einen Seheindruck im Gehirn vollständig verarbeitet haben, dann legt ein Mittelfeldspieler, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 5 Metern pro Sekunde läuft, in dieser Zeit immerhin eine Strecke von 25 Zentimetern zurück. Auf diesen 25 Zentimetern ist der Linienrichter quasi „blind“, da sich sein Gehirn gerade mit der Verarbeitung der empfangenen Daten beschäftigt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass diese Verarbeitung sogar 1/10 Sekunde dauern kann und ein sprintender Stürmer sogar bis zu 10 Meter pro Sekunde erreichen kann (die Relativgeschwindigkeit zwischen einem Stürmer und Abwehrspieler kann leicht 10 Meter pro Sekunde betragen), dann vergrößert sich diese „unsichtbare Strecke“ auf einen ganzen Meter! Hierbei ist es natürlich wichtig zu bemerken, dass man während dieser Zeit nicht „blind“ ist, sondern lediglich „beschäftigt“ mit dem Verarbeiten der Dinge, auf die man sich konzentriert. Unser Gehirn versorgt uns in der Zwischenzeit natürlich trotzdem mit Bildern, die nicht immer mit dem wirklich Geschehenen übereinstimmen müssen. Darauf basieren übrigens viele optische Täuschungen, die wir hier nicht weiter diskutieren wollen.

Ein weiteres Problem kommt aber noch für den Linienrichter hinzu. Um eine Abseitsposition zu erkennen, muss das menschliche Auge oft in der Lage sein, gleichzeitig bis zu fünf Objekte zu erfassen, die sich relativ zueinander bewegen. Eine Reihe von Untersuchungen hat bisher aber gezeigt, dass das Auge für diese Aufgabe viel zu träge ist – zumindest in einem dynamischen Spiel wie Fußball, wo sich Angreifer und Abwehrspieler mit bis zu 35 km/h relativ zueinander bewegen. Idealerweise befinden sich alle fünf Objekte, z.B. je zwei Spieler beider Mannschaften sowie der Ball, im Blickfeld des Schiedsrichters oder eines seiner Assistenten. Ohne „Scharfstellen“ erfassen die Augen diese Objekte mit einer Verzögerung von etwa 5/100 bis 1/10 Sekunde, wie oben angedeutet. Wenn das Auge aber „akkomodieren“, d.h. die Augenlinse verstellen, und Fokussieren muss, dann kostet das mindestens weitere 0,5 Sekunden, was wieder mehreren Metern Unsicherheit auf dem Platz entspricht!

Sehschärfe, aufgetragen gegen den Winkel zur optischen Achse des Auges. Für die Stäbchen ist die Schärfe immer gering mit etwa fünf Prozent. Zwischen plus-minus 10 Grad Entfernung vom Zentrum geht sie V-förmig auf Null herunter. Die Schärfe des Zapfensehens hingegen steigt von zwei bis drei Prozent bei über 50 Grad exponentiell zur Mitte hin an und erreicht bei null Grad 100 Prozent.

Dichte der Sehzellen auf der Netzhaut

Zudem muss man auch bedenken, dass eine Spielfeldhälfte eine Fläche von gut 3500 Quadratmetern umfasst, so dass sich viele Szenen nur „im Augenwinkel“ des Linienrichters abspielen. Dies wirft ein weiteres Problem auf, wie die Grafik rechts zeigt.

Diese Grafik zeigt die Dichte der Sehzellen auf der Netzhaut als Funktion der Position im Auge so wie rechts oben angedeutet. Deutlich ist zu erkennen, dass die Sehschärfe des Auges am größten ist, wenn das Licht gerade durch die Linse einfällt. Dabei sind die sehr dicht auf der Netzhaut angeordneten sog. „Zäpfchen“ für das Farbsehen verantwortlich und die nicht so dicht liegenden „Stäbchen“ für den Unterschied zwischen „Hell“ und „Dunkel“. Aus der Grafik folgt also, dass man „im Augenwinkel“ in der äußeren Sehzone niemals genau Sachen erkennen kann. Ein Linienrichter wird deswegen immer ein Problem haben, wenn ein weiter Pass gespielt wird und er entscheiden soll, ob sich ein Angreifer im Moment der Ballabgabe im Abseits befindet. Hier muss er oft Sachen beurteilen, die sich „im Augenwinkel“ abspielen. Die Sehschärfe ist dabei aber stark reduziert. Gleichzeitig zeigen Studien aber auch, dass das Erkennen von Ereignissen in der äußeren Sehzone und das Weiterleiten der Information in die Sehgrube (0°-Bereich in der Grafik oben) bis zu 0,3 Sekunden dauern kann. In diesen 0,3 Sekunden hat sich ein Stürmer aber schon wieder bis zu 3 Meter weiterbewegt!

Grafik: Fußballfeld, Positionen des Angreifers und Verteidigers eingezeichnet. Die Anordnung ist in der Bildunterschrift beschrieben. Außerdem ist ein Querschnitt des Auges des Linienrichters gezeigt, in dem die Bilder des Angreifers und Verteidigers so erscheinen, dass sie nicht die richtige Höhe auf dem Spielfeld wiedergeben.

Falsch auf Abseits gewertet

Zu diesen „biologischen Schwierigkeiten“, die alle auf der Trägheit unserer Augen beruhen, kommt für den Linienrichter aber auch noch eine ziemlich einfache geometrische Schwierigkeit hinzu, um eine Abseitsstellung zweifelsfrei zu erkennen.

Wir gehen davon aus, dass der Linienrichter es nicht immer schafft exakt auf gleicher Höhe wie der Ball bzw. der Verteidiger zu sein. In der obigen Graphik ist zur Veranschaulichung alles etwas übertrieben dargerstellt. Angenommen der Linienrichter steht an der Seitenlinie dichter am Tor als der Verteidiger (roter Kreis) und der Angreifer (blauer Kreis), die sich beide nach oben bewegen sollen. Dabei ist der Angreifer weiter weg vom Linienrichter als der Verteidiger. In dieser Situation würde der Linienrichter eine Abseitsstellung erkennen, obwohl sich der Angreifer weiter von der Grundlinie entfernt befindet als der Verteidiger. Das liegt daran, dass die Projektionen der vom Angreifer und Verteidiger ausgehenden Lichtstrahlen auf der Netzhaut des Auges des Linienrichters, wie rechts unten in der Grafik angedeutet, in umgekehrter Reihenfolge erscheinen. Der Linienrichter sieht in diesem Fall also ein klares Abseits und muss nach bestem Wissen und Gewissen die Fahne heben! Auch dieser Effekt kann recht groß werden. Wenn der Linienrichter sich etwa 5 Meter oberhalb der Linie Angreifer-Verteidiger befindet, die Situation oben in der Grafik etwa 25 Meter von der Seitenlinie entfernt ist und der Verteidiger und Abwehrspieler 5 Meter voneinander entfernt stehen, dann kann der Angreifer sich einen Meter hinter dem Verteidiger befinden und trotzdem würde ein Linienrichter eine klare Abseitsstellung erkennen!

Grafik wie vorhergehende zum falsch erkannten Abseits. Hier sind lediglich die Rolle von Angreifer und Verteidiger vertauscht.

Nicht erkanntes Abseits

Umgekehrt wäre die Situation, wenn sich der Verteidiger weiter weg vom Linienrichter befindet als der Angreifer.

Dieses Mal befindet sich der Angreifer im Abseits. Allerdings ergibt die Projektion auf der Netzhaut des Linienrichters wieder das Gegenteil, wie die Grafik rechts unten andeutet. Der Linienrichter sieht, dass sich der Abwehrspieler noch dichter als der Angreifer an der Grundlinie befindet und damit keine Veranlassung besteht „Abseits“ zu pfeifen. Auch hier ergibt eine kurze Überschlagsrechnung mit den gleichen Zahlen wie vorher, dass sich der Angreifer jetzt bis zu einem Meter im Abseits befinden kann, ohne dass dies ein Linienrichter auch nur bemerken könnte!

Als Fazit können wir festhalten, dass die Abseitsregel mit allen Details nicht nur schwierig zu verstehen ist, sondern dass ihre korrekte Umsetzung und das Erkennen auf dem Platz noch viel schwieriger bzw. prinzipiell unmöglich sind. Einerseits ist die Trägheit des menschlichen Auges so groß, dass mehrere Meter Unsicherheit bei jeder Entscheidung bleiben. Auch die rein geometrische Projektion einer Spielsituation ins Auge des Linienrichters kann einen Fehler von bis zu einem Meter bei der Abschätzung des Abstandes zweier Spieler zueinander verursachen. Wenn man dies alles bedenkt, dann sollte man sich eigentlich nicht immer nur über die (wenigen!) Fehlentscheidungen von Linienrichtern unterhalten, die häufig nachträglich in Superzeitlupe, mit Standbildern und 3D-Analysen seziert und besserwisserisch von sogenannten „Experten“ kommentiert werden, sondern man sollte die ungeheuere Leistung der Schieds- und Linienrichter würdigen. Sie machen viel weniger Fehler als nach der obigen Analyse zu erwarten wären! Das muss daran liegen, dass sie in der Regel sehr viele Entscheidungen aufgrund ihrer Erfahrung treffen und entsprechende Laufwege der Spieler „vorausahnen“. Mit anderen Worten: Unsere Schieds- und Linienrichter sind offenbar hervorragend ausgebildet! Andernfalls ist die äußerst geringe Zahl an Fehlentscheidungen, insbesondere was Abseitsstellungen angeht, nicht zu erklären.

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Abseitsposition

Die Abseitsstellung eines Spielers stellt an sich noch keine Regelübertretung dar.

Ein Spieler befindet sich in einer Abseitsstellung,

  • wenn er der gegnerischen Torlinie näher ist als der Ball und der vorletzte Abwehrspieler.

Ein Spieler befindet sich nicht in einer Abseitsstellung,

  • in seiner eigenen Spielfeldhälfte oder
  • auf gleicher Höhe mit dem vorletzten Abwehrspieler oder
  • auf gleicher Höhe mit den beiden letzten Abwehrspielern.

Vergehen

Ein Spieler wird nur dann für seine Abseitsstellung bestraft, wenn er nach Ansicht des Schiedsrichters zum Zeitpunkt, wenn der Ball einen seiner Mannschaftskollegen berührt oder von einem gespielt wird, aktiv am Spielgeschehen teilnimmt, indem er:

  • ins Spiel eingreift oder
  • einen Gegner beeinflusst oder
  • aus seiner Stellung einen Vorteil zieht.

Kein Vergehen

liegt vor, wenn ein Spieler den Ball direkt erhält von

  • einem Abstoß oder
  • einem Einwurf oder
  • einem Eckstoß.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/falsches-abseits/