Mit Isaac Newton in der Achterbahn
Irena Kampa
Wer in einer Achterbahn fährt, der spürt, wie groß die Kräfte sind, die dabei wirken. Denn nur sie machen den besonderen Nervenkitzel bei rasanten Abfahrten und Loopings erst möglich. Außerdem sorgen sie dafür, dass die Insassen des letzten Wagens oft das „erhebendste“ Achterbahnerlebnis genießen.
Eine klassische Achterbahnfahrt beginnt damit, dass der Wagen mithilfe eines Kettenantriebs auf die erste Anhöhe, den Lifthügel, gezogen wird. Ab dann setzt er seine Fahrt selbständig fort. Denn normalerweise haben Achterbahnzüge keinen eigenen Antrieb (die Ausnahme bilden die eher seltenen Powered Coasters). Die Energie, die der Wagen allein aufgrund seiner Höhe über dem Erdboden hat, nennt man Lageenergie oder potenzielle Energie und diese muss für die gesamte Fahrt reichen. Die Energie, die in der Bewegung des Wagens steckt, also die kinetische Energie, ist auf dem Lifthügel noch sehr gering. Das ändert sich aber schlagartig, wenn der Wagen die erste Abfahrt erreicht. Während er dem Erdboden entgegen rast, wandelt sich seine potenzielle Energie in kinetische Energie um – der Wagen verliert an Höhe, nimmt dafür aber an Geschwindigkeit zu. Im Tal ist die kinetische Energie am größten und die potenzielle Energie am geringsten. Danach fährt der Wagen den nächsten Hügel hinauf und die Energieform wandelt sich von kinetischer wieder zu potenzieller um.
Dieses Spiel der Umwandlung geht die ganze Achterbahnfahrt so weiter, wobei die Summe der beiden Energien immer konstant bleibt. Wenn nicht ein Teil der anfänglichen Energie durch Reibung in Wärme umgewandelt werden würde, könnte die Achterbahnfahrt bis in alle Ewigkeit andauern.
Gravitation und Beschleunigung im Achterbahnsitz
Die Freizeitparks überbieten sich immer wieder mit neuen Geschwindigkeitsrekorden, dabei sagt die Geschwindigkeit allein wenig über den Fahrspaß aus. Was die Fahrt aufregend macht, sind die Beschleunigungen, die auf den Körper wirken. Von einer Beschleunigung spricht der Physiker nicht nur, wenn die Geschwindigkeit zunimmt, sondern auch bei einer Verlangsamung oder einer Änderung der Richtung der Bewegung, also bei Kurvenfahrten, Hügeln oder Tälern. Beschleunigungen werden durch verschiedene Kräfte hervorgerufen. In einer Abfahrt beschleunigt die Gravitationskraft den Wagen. Während der Fahrt kann dadurch die Beschleunigung des Wagens genauso groß werden wie die Beschleunigung eines Körpers im freien Fall hin zum Erdmittelpunkt. Auf diese Weise wird die Gravitationskraft ausgeglichen. Wir können unser eigenes Gewicht nicht spüren und fühlen uns kurzzeitig schwerelos.
Fährt der Wagen durch ein Tal oder eine Kurve, wird die Bewegungsrichtung durch die Schienen auf eine bogenförmige Bahn gelenkt. Als Folge dessen spürt der Passagier eine Kraft, die ihn im Tal nach unten beziehungsweise in den Kurven nach außen drückt. Diese Kraft wird Zentrifugalkraft genannt und ist umso größer, je höher die Geschwindigkeit und je stärker die Krümmung ist. Im Talkessel wirken Zentrifugalkraft und Gravitation in dieselbe Richtung. Der Fahrgast fühlt sich deutlich schwerer als sonst.
Fährt der Wagen über die Kuppe eines Hügels, wirkt die Zentrifugalkraft in entgegengesetzter Richtung. Wenn die Geschwindigkeit hoch genug ist, kann die Radialbeschleunigung vom Sitz weg, die durch die Zentrifugalkraft verursacht wird, sogar größer als die Erdbeschleunigung werden. Der Passagier wird in seinem Sitz angehoben und nur noch durch den Bügel im Wagen gehalten. Der Achterbahnenthusiast spricht in diesem Fall vom negativen g oder von „Airtime“.
Zentrifugalkräfte treten bei jeder Kurvenfahrt auf. Um ihre Auswirkungen abzumildern, sind die Schienen oft geneigt, sodass der Passagier nicht zur Seite sondern zum Boden des Wagens hin beschleunigt wird. Eine Ausnahme bilden die kleineren Achterbahnen vom Typ „Wilde Maus“, die oft auf Jahrmärkten zu finden sind. Sie weisen eine Vielzahl von sehr engen Kurven ohne Schienenneigung auf. Die Besucher haben hier das Gefühl, dass der Wagen zu entgleisen droht.
Die Zentrifugalkraft ist auch entscheidend für ein weiteres spektakuläres Element einer Achterbahn: den Looping. Bei einem Looping durchfährt der Wagen eine 360-Grad-Schleife und befindet sich für kurze Zeit über Kopf. Noch heute gibt es Achterbahnen, bei denen die Besucher nur durch einen einfachen Schoßbügel gesichert sind. Das ist nur möglich, weil die Zentrifugalkraft im höchsten Punkt des Loopings mindestens so groß ist wie die Gewichtskraft. Sie wirkt dann wie eine „künstliche Gravitation“, die den Passagier im Wagen hält.
Die richtige Platzwahl
Mit all diesem Wissen über Energieformen und Kräfte können wir nun der Erklärung eines Phänomens nachgehen, das man in vielen Freizeitparks beobachtet: Warum sind die Warteschlangen für den ersten und den letzten Sitz am längsten, wenn doch der gesamte Zug immer mit derselben Geschwindigkeit fährt? Bei den vorderen Sitzen ist die Erklärung einfach: Der Fahrgast spürt den Fahrtwind stärker und hat einen unverstellten Blick auf die Schienen vor ihm. Die Fahrt kommt ihm allein deswegen schon rasanter vor. Bei den hinteren Sitzen sind jedoch andere Effekte wichtig.
Bisher haben wir in unseren Überlegungen immer einen einzelnen Wagen betrachtet, den wir so klein angenommen haben, dass seine Ausdehnung keine Rolle spielte. Auf einer Achterbahn fahren aber sehr oft lange Züge, die aus mehreren Wagen bestehen. Die Wagen üben zusätzliche Kräfte aufeinander aus. Sie können sich gegenseitig anschieben oder andere hinter sich herziehen. Alle Wagen eines Zuges haben natürlich zu jedem Zeitpunkt dieselbe Geschwindigkeit, schließlich sind sie fest miteinander verbunden. Die Geschwindigkeit, die ein Wagen an einem bestimmten Punkt der Bahn hat, kann sich jedoch durchaus von der eines anderen Wagens unterscheiden, als dieser am selben Ort war.
Nehmen wir an, dass unser Achterbahnzug aus fünf Wagen besteht. Er befindet sich gerade auf dem Lifthügel und bewegt sich durch die geringe Neigung der Schienen langsam auf die Abfahrt zu. Der erste Wagen fährt gemächlich über die Kuppe. Dann beschleunigt die Gewichtskraft des ersten Wagens den gesamten Zug. Mit jedem Wagen, der die Kuppe überschreitet, nimmt die wirkende Kraft zu. Wenn der letzte Wagen sich an der Kuppe befindet, hat der Achterbahnzug schon eine hohe Geschwindigkeit erreicht. Auf den Passagier dieses Wagens wirkt eine höhere Beschleunigung als auf die Insassen der vorderen Wagen, denn die Zentrifugalbeschleunigung erhöht sich mit dem Quadrat der Geschwindigkeit. Er spürt also die gewünschte Airtime bei der ersten und höchsten Abfahrt intensiver als die anderen.
Der gesamte Zug nimmt weiter an Geschwindigkeit zu, bis der mittlere Wagen den Tiefpunkt des Tals erreicht. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich zwei Wagen bereits beim Anstieg und zwei noch bei der Abfahrt. Die Gewichtskräfte der hinteren, die den Zug beschleunigen und die der vorderen, die den Zug abbremsen, heben sich beide auf, vorausgesetzt der Zug ist gleichmäßig beladen. Der mittlere Wagen durchfährt das Tal also mit der höchsten Geschwindigkeit, auf ihn wirken deshalb die stärksten positiven g-Kräfte. Danach wird der Zug langsamer, bis die Zugmitte den nächsten Hügel überfahren hat und das Spiel wieder von vorne beginnt. Die mittleren Wagen sind also auf Hügeln am langsamsten und in Tälern am schnellsten, deshalb sind sie bei Achterbahnfahrern weniger beliebt als die äußeren Wagen.
Die Regel, dass die Fahrt in den hinteren Wagen aufregender ist als in den mittleren, gilt vor allem für Achterbahnen mit langen Zügen und vielen Airtime-Elementen. Bei Strecken mit vielen Inversionen, also Überkopfelementen, könnten andere Plätze mehr Spaß versprechen. Wenn die Wagen mehr als zwei Sitze pro Reihe haben, gibt es sogar hier merkliche Unterschiede. Fahrgäste auf den äußeren Sitzen überfahren beispielsweise bei Spiralen in der gleichen Zeit längere Wege als die Zentralsitzenden und unterliegen damit höheren Beschleunigungen.
Wie Achterbahnen abbremsen – und manchmal auch durchstarten
Nach so viel klassischer Mechanik nun noch ein wenig zur modernen Technik der Achterbahnen. Achterbahnzüge können mehrere Tonnen wiegen und Geschwindigkeiten weit über 120 Kilometer pro Stunde erreichen. Normale Bremsen, die nach dem Reibungsprinzip funktionieren, unterliegen bei solchen Anforderungen einem extrem hohen Verschleiß. Es gibt aber auch berührungslose Bremstechniken, die nach dem Prinzip der elektromagnetischen Induktion funktionieren.
Zuerst wurden diese Wirbelstrombremsen bei Freifalltürmen eingesetzt. Hier wird eine Gondel mit den Fahrgästen langsam auf eine große Höhe gezogen. Oben angekommen, wird sie ausgeklinkt und fällt dann völlig frei herunter. An der Gondel sind starke Permanentmagnete angebracht, im unteren Bereich des Turms befinden sich Bremsschwerter aus leitendem Material. Wenn die Gondel nun in diesen Bereich kommt, induzieren die Magnete Wirbelströme in die Leiter. Diese Ströme bilden wieder ein Magnetfeld, das dem ursächlichen Magnetfeld entgegengesetzt ist (Lenzsche Induktionsregel). Die Gondel wird dadurch abgebremst. Die Bremskraft ist umso stärker, je schneller sich Leiter und Magnetfeld gegeneinander bewegen.
Ein lebenswichtiger Vorteil dieser Bremsen ist, dass sie auch bei einem Stromausfall einwandfrei funktionieren. Seit den neunziger Jahren werden Wirbelstrombremsen auch an Achterbahnen eingesetzt. Die Magnete befinden sich meist an der Schiene und die Bremsschwerter am Wagen. Normale Reibungsbremsen sind aber weiterhin unerlässlich, denn die magnetischen Bremsen funktionieren nur, wenn eine Relativbewegung zwischen Magnet und Leiter besteht, das heißt, sie können den Zug nicht komplett zum Stillstand bringen oder an einer Schrägen festhalten.
Die Lenzsche Induktionsregel findet auch in modernen Antriebssystemen Verwendung. Neben dem Kettenaufzug gibt es die Möglichkeit, dem Zug mit einem Katapultstart genügend Energie für die Fahrt mitzugeben. Diese Streckenform kommt seit Mitte der neunziger Jahre und der Einführung des LIM (linearer Induktionsmotor) im Achterbahnbau vor. Der Achterbahnwagen kann fast aus dem Stand auf waagerechter Strecke beschleunigt werden. Das Prinzip des LIM folgt dem eines Wechselstrommotors, nur dass hier eine lineare statt einer rotierenden Bewegung erzeugt wird.
Vereinfacht dargestellt werden auf den Schienen Spulen angebracht, an die Wechselstrom angelegt wird. So wird ein wellenförmiges „Wanderfeld“ erzeugt, das sich entlang der Schienen bewegt. An die Achterbahnwagen sind Leiterschwerter angebracht, in die das Magnetfeld Wirbelströme induziert. Es entsteht ein Gegenfeld. Die abstoßende Wirkung beider Magnetfelder wird so eingesetzt, dass das Magnetfeld des Wagens vom Wanderfeld quasi hinterhergezogen wird. Damit das überhaupt funktioniert, ist eine aufwendige elektrische Regeltechnik und millimetergenaue Positionsmessung der Wagen erforderlich. Außerdem werden kurzzeitig enorme Energien benötigt, die das Stromnetz eines Freizeitparks ganz schön auf die Probe stellen können. Es müssen also viele Herausforderungen bewältigt werden, aber das Fahrgefühl, wenn ein tonnenschwerer Wagen in wenigen Sekunden auf etwa hundert Kilometer pro Stunde beschleunigt wird, ist vielen Freizeitparks den Aufwand wert.
Geschwindigkeitsrekorde können mit diesem System jedoch nicht erreicht werden. Dafür müssten in sehr kurzer Zeit sehr hohe Energiemengen zur Verfügung gestellt werden, was die Stromversorgung des Parks nicht verkraften würde. Die momentan schnellste Achterbahn der Welt, die „Formula Rossa“ in Dubai, wird in 4,9 Sekunden auf 240 Kilometer pro Stunde beschleunigt. Verantwortlich dafür ist ein Hydraulikantrieb, bei dem die Energiemenge über einen längeren Zeitraum verdichtet und dann zum Start schlagartig freigegeben wird.
Beschleunigung und g-Kräfte
Nach dem zweiten newtonschen Gesetz kann die Beschleunigung eines Körpers durch das Verhältnis der auf ihn wirkenden Kraft zu seiner Masse berechnet werden F=m·a. Deswegen werden die Begriffe Kraft und Beschleunigung oft auch synonym gebraucht. Die Erdbeschleunigung hat in unseren Breiten einen Wert von g=9,81 m/s.
Um sich die Kraft, die eine Beschleunigung hervorruft, besser vorzustellen, gibt man sie als Vielfaches der Erdbeschleunigung an. Man redet dann auch etwas missverständlich von g-Kräften. Bei einer „Kraft“ von 3g wirkt auf einen Körper das Dreifache seiner Gewichtskraft. In Achterbahnen können kurzzeitig Beschleunigungen von bis zu 6g auftreten. Zu starke oder zu lange andauernde Beschleunigungen können das Blut aus dem Gehirn in die Füße drücken und so einen Blackout verursachen. Seitliche Beschleunigungen werden vom Körper nicht so gut verkraftet, deshalb sind diese gesetzlich auf maximal 2g beschränkt.
Die negativen g-Kräfte lösen bei den Passagieren das bekannte Kribbeln im Magen aus. Denn unser Körper ist kein festes, starres Gebilde, sondern besteht aus vielen Organen die relativ lose „aufgehängt“ sind. Wird die Gravitationsbeschleunigung scheinbar aufgehoben, drücken die Organe nicht mehr gegenseitig aufeinander, sondern jedes Organ bewegt sich quasi für sich im freien Fall. Bei manchen Fahrgästen kann das neben dem Kribbeln zu Übelkeit führen.
Zentrifugalkraft und Zentripetalkraft
Für die Kraft, die bei einer Kurvenfahrt wirkt, kennt man im Alltag die Bezeichnung Zentrifugalkraft. Der Physiker spricht aber auch häufig von der Zentripetalkraft. Von ihrem Betrag her sind beide Kräfte gleich groß, wirken aber in eine andere Richtung. Sie beschreiben das gleiche Phänomen, der Unterschied liegt lediglich im Standpunkt des Betrachters. Die Zentripetalkraft ist die Kraft, die einen Körper auf eine gekrümmte Bahn zwingt. Bei der Achterbahn sind die Schienen dafür verantwortlich. Ein Beobachter, der vor der Achterbahn steht, kann sehen, wie die Wagen so auf ihre Bahn gelenkt werden.
Die Zentrifugalkraft hingegen ist eine sogenannte Scheinkraft, die in beschleunigten Bezugssystemen auftritt. Der Passagier in der Achterbahn hat das Gefühl, dass ihn in der Kurve eine Kraft nach außen drückt. Was er dabei spürt, ist die Trägheit seines Körpers gegenüber der Richtungsänderung. Da die Zentrifugalkraft besser mit der tatsächlichen Erfahrung in der Achterbahn übereinstimmt, wird dieser Begriff im Artikel verwendet.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/mit-isaac-newton-in-der-achterbahn/