Wie entstehen riesige Hagelkörner?
Sven Titz
Bei Gewittern können auch hierzulande Eisbrocken vom Himmel fallen, die so groß wie Golfbälle und – in seltenen Fällen – so groß wie Tennisbälle sind. Für solche riesigen Hagelkörner ist ein starker, beständiger Aufwind nötig. Während die Hagelkörner darin schweben, frieren Wassertröpfchen an ihnen fest. Schließlich sausen die Körner dann mit hohen Geschwindigkeiten auf die Erde zu.
Entlaubte Bäume, durchlöcherte Dächer, zerborstene Autoscheiben – das sind typische Folgen eines Hagelschlags, auch wenn das spektakuläre Phänomen nur wenige Minuten andauert. Hagelkörner entstehen in Gewitterwolken, wenn bestimmte Bedingungen herrschen. Das sind vor allem feuchte, warme Luft an der Erdoberfläche, kalte Luft in der Höhe und ein Auslöser für das Aufsteigen von Luft – meteorologisch bedingt oder durch das Gelände erzwungen. Kommen dann noch besondere Windbedingungen hinzu, die dazu führen, dass sich ein rotierendes Aufwindgebiet bildet, können sich extreme Gewitter, sogenannte Superzellen, entwickeln, die ungewöhnlich große Hagelkörner produzieren.
Hagel im Kleinen
Der Kern eines Hagelkorns bildet sich meistens aus einem Eiskristall, der aus dem oberen, eisigen Teil der Gewitterwolke in ein Aufwindgebiet hineinfällt. Durch den Aufwind wird dieser Eiskern gebremst, und er beginnt – in ungefähr gleichbleibender Höhe schwebend – allmählich zu wachsen. In Gewitterwolken schweben viele Wassertröpfchen, die zwar eine Temperatur von unter Null Grad Celsius haben, aber nicht gefroren sind. Kollidieren diese unterkühlten Tröpfchen mit dem Kern des Hagelkorns, dann gefriert das Wasser. Oft lagern sich mehrere Eisschichten an, die abwechselnd klar und milchig aussehen. Das unterschiedliche Aussehen der Schichten kommt durch die Umgebungsbedingungen zustande. Es hängt von Temperatur und Feuchtigkeit ab.
Klare Eisschichten entstehen in Bereichen der Wolke, in denen die Temperatur nur knapp unter null Grad Celsius liegt und die Luft recht feucht ist. In diesem Fall frieren die unterkühlten Wassertröpfchen nicht sofort am Eiskorn fest, sondern brauchen dazu eine Weile. Dank dieser Verzögerung können Luftbläschen rechtzeitig entweichen und die neu gewachsene Eisschicht wird kristallklar. In manchen Bereichen der Wolke liegt die Temperatur weit unter null Grad Celsius, und die Luft ist trockener. Kollidieren unterkühlte Tröpfchen dort mit einem Hagelkorn, frieren sie sofort fest. Dabei werden feine Luftbläschen eingeschlossen, die eine milchige Eisschicht hervorrufen.
Weisen Hagelkörner abwechselnd klare und milchige Schichten auf, dann zeigt das, dass sie sich innerhalb der Wolke mehrfach in Gebieten unterschiedlicher Temperatur und Feuchtigkeit befanden. Früher nahmen Meteorologen an, dass solche Hagelkörner wie in einem Aufzug wiederholt in die kalte Höhe verfrachtet wurden, um anschließend wieder in die wärmere Tiefe zu stürzen. Heute weiß man aber, dass die Aufwindgebiete von Gewitterwolken eine sehr turbulente Dynamik haben. Sie können innerhalb kurzer Zeit die unterschiedlichsten Temperaturbedingungen aufweisen – auch in identischer Höhe. Hagelkörner mit „Zwiebelschichten“ können sich demnach auch bilden, ohne dass sie eine Achterbahnfahrt durchmachen.
Selbstverständlich wachsen Hagelkörner nicht unaufhörlich weiter. Ihre Größe ist durch die Stärke des Aufwinds begrenzt, der sie in der Schwebe hält: Je kräftiger der Aufwind, desto größere Hagelkörner können sich entwickeln. Sie schweben wenige Minuten bis ungefähr eine halbe Stunde in der Wolke – je nachdem, wie schnell sie an Masse zunehmen und auf den Boden herabfallen. In den mittleren Breiten werden Hagelkörner gelegentlich so groß wie Golfbälle. Im freien Fall können Körner dieser Größe eine Geschwindigkeit von mehr als 120 Kilometern pro Stunde erreichen.
Solche Hagelkörner können Dellen in Autodächer schlagen und Glasscheiben zersplittern lassen. Allerdings werden Aufwinde in Gewittern hierzulande nur selten so stark, dass derart große Eisbrocken vom Himmel fallen. Die Hagelschläge im Landkreis Reutlingen in Baden-Württemberg, die sich im Juli und August 2013 ereigneten, stellen Extremfälle dar. Die Hagelkörner waren damals mit einem Durchmesser von bis zu 14 Zentimetern teilweise deutlich größer als Tennisbälle. Sie beschädigten zahlreiche Autos, Hausdächer und -fassaden.
Hagelkörner mit Rekordgröße
In anderen Ländern – etwa in den USA, Indien und Bangladesch – kann der Aufwind in Gewittern noch wesentlich kräftiger werden, was bedeutet, dass die Hagelkörner sogar noch weiter anwachsen können. Mehrfach fand man dort schon Hagelkörner mit dem Durchmesser von Grapefruits. Das größte Hagelkorn, das durch eine verlässliche Messung dokumentiert wurde, stürzte 2010 während eines Gewitters im US-Bundesstaat South Dakota vom Himmel. Der Brocken besaß an der längsten Stelle einen Durchmesser von 20 Zentimetern und wog fast 900 Gramm.
Meteorologen haben das Gewitter, das den Riesenhagel von South Dakota hervorrief, nachträglich analysiert. Demnach handelte es sich um eine Superzelle. Die mächtige Gewitterwolke reichte 17 Kilometer hoch in den Himmel – viel höher als in Deutschland, wo die Oberseite meist in einer Höhe von ungefähr zwölf Kilometern liegt. An der Erdoberfläche herrschten in South Dakota um die 30 Grad Celsius; die Oberseite des Gewitters wies Temperaturen um die minus 70 Grad Celsius auf. Der Aufwind in der Wolke blies mit einer Geschwindigkeit von bis zu 290 Kilometern pro Stunde. Nur derart extreme Bedingungen, verbunden mit einem rotierenden und darum sehr stabilen Aufwindgebiet, können so riesige Hagelkörner entstehen lassen.
Wie schnell Hagelkörner sind, wenn sie auf die Erde treffen, hängt von vielen Einflussfaktoren ab – zum Beispiel von der Form und Dichte der Hagelkörner: Ein Eisbrocken mit vielen Lufteinschlüssen und Ausbuchtungen bietet einen größeren Luftwiderstand und hält sich darum länger im Aufwind als eine kompakte Eiskugel mit hoher Dichte. Sicher ist aber, dass die Endgeschwindigkeit im Schnitt mit dem Gewicht des Hagelkorns zunimmt. Hagelkörner mit einem Durchmesser über fünf Zentimeter dürften in der Regel mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 Kilometern pro Stunde gen Boden sausen. Riesenhagel kann eine Fallgeschwindigkeit von mehr als 200 Kilometern pro Stunde erreichen. Entsprechend groß ist der Schaden, den er am Boden anrichten kann.
Superzellen
Eine spezielle Variante von Gewittern produziert oft besonders großen Hagel – die Superzelle. Das ist ein Gewitter mit einem rotierenden und außergewöhnlich kräftigen Aufwindgebiet, das über lange Zeit bestehen bleibt. Das Aufwindgebiet wird auch „Mesozyklone“ genannt und hat einen Durchmesser von ein bis zwei Kilometern. Superzellen werden nicht nur wegen des Hagels gefürchtet, sondern auch deshalb, weil sie überproportional oft Tornados erzeugen.
Langsame Regentropfen
Anders als Hagelkörner verformen sich Regentropfen im freien Fall durch den Luftwiderstand. Je größer sie werden, desto höher ist darum die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Luft zu kleineren Tropfen zerplatzen. Ein Durchmesser von mehr als fünf Millimetern wird daher selten erreicht. Unter bestimmten Bedingungen sind aber auch größere Tropfen möglich: In den Tropen wurden vereinzelt Regentropfen mit einem Durchmesser von neun Millimetern gemessen.
Die Tropfen von Nieselregen haben in der Regel einen Durchmesser von ungefähr einem Millimeter. Sie erreichen eine Geschwindigkeit von 3,6 Kilometer pro Stunde. Zwei Millimeter große Regentropfen legen schon 23 Kilometer pro Stunde zurück. Tropfen mit einem Durchmesser von fünf Millimetern fallen mit einer Geschwindigkeit von 32 Kilometern pro Stunde zu Boden. Größere Tropfen können kaum schneller werden, weil sie sich zu linsenartigen Gebilden verformen, die der Luft eine stetig wachsende Angriffsfläche bieten. Hagelkörner werden Regentropfen auf ihrem Weg nach unten darum immer überholen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/wie-entstehen-riesige-hagelkoerner/