Wie finden Zugvögel den Weg?
Isabel Rathmann
Im Herbst fliegen viele Vögel in den Süden und im Frühjahr kehren sie zurück. Mittlerweile steht fest, dass die Zugvögel zum Navigieren das Magnetfeld der Erde benutzen. Dieses nehmen sie mit ihrem Magnetsinn wahr. Viele Fragen sind noch offen, aber einen Kandidaten für den inneren Kompass haben die Wissenschaftler: Ein Molekül auf der Netzhaut der Tiere.
Jedes Jahr, wenn es anfängt kalt zu werden, lässt sich am Himmel der Zug der Vögel beobachten. Viele der Tiere legen enorme Strecken zurück, um in wärmeren Gegenden zu überwintern. Die Küstenseeschwalbe hält den Rekord. Sie fliegt einmal im Jahr von arktischen in antarktische Regionen – und legt dabei etwa 15 000 Kilometer zurück. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich Zugvögel am Stand der Sonne orientieren. Viele der Tiere legen jedoch große Teile ihrer Reise in der Nacht zurück. Um dennoch den richtigen Weg zu finden, nutzen sie offenbar das Magnetfeld der Erde.
„Zum Navigieren braucht man immer zwei Dinge: eine Karte sowie einen Kompass“, erklärt Ilia Solov’yov von der Süddänischen Universität in Odense. Der Magnetsinn der Vögel setzt sich deshalb aus zwei Komponenten zusammen: Die Tiere können zum einen die Stärke des Erdmagnetfelds und zum anderen dessen Ausrichtung erfassen. Beide Fähigkeiten sind gleichermaßen wichtig. Indem die Zugvögel auf ihrer inneren Magnetfeldkarte die magnetischen Feldstärken verschiedener Regionen verzeichnen, können sie erkennen, an welchen Orten sie schon einmal waren. „Bewegen wir uns zum Beispiel in Richtung Äquator, so ändert sich die Magnetfeldintensität etwas. Auch in der Nähe einer Großstadt gibt es Anomalien im Magnetfeld.“ Ist der Standort bekannt, hilft ein innerer Kompass den Vögeln, die Flugrichtung festzulegen.
Wo im Körper der Tiere der Magnetsinn verankert ist, untersuchen Wissenschaftler bereits seit vielen Jahren. Den inneren Kompass vermuten sie im Auge der Vögel. „Wir denken, dass es auf der Netzhaut ein bestimmtes Protein gibt“, so Solov’yov. „Bringt man dieses Protein in ein Magnetfeld, dann verändern sich seine chemischen Eigenschaften.“ Dieses Verhalten führen die Forscher auf einzelne Molekülpaare in dem Protein zurück. Die beteiligten Moleküle verfügen jeweils über ein überschüssiges Elektron, das sich wie ein kleiner Stabmagnet verhält. Wie sich die beiden winzigen Magneten innerhalb eines Paares ausrichten – parallel oder antiparallel – hängt stark von der Richtung des Erdmagnetfelds ab. Und je nachdem wie viele der Molekülpaare in der Netzhaut den einen oder anderen Zustand einnehmen, laufen die chemischen Reaktionen im Auge geringfügig anders ab. Auf diese Weise kann der Vogel die Himmelsrichtungen unterscheiden.
Über den Mechanismus sind sich die Forscher einig. Welches Protein jedoch die Rolle des Magnetsensors im Auge übernimmt, ist noch nicht ganz klar. Der bisher beste Kandidat ist ein Protein namens Cryptochrom, das Biologen in der Netzhaut des Vogelauges fanden. Theoretische Physiker berechneten anschließend, wie sich das Protein in einem Magnetfeld verhalten müsste. „Wir haben gezeigt, dass Cryptochrom wirklich viele tolle Eigenschaften hat, die den Kompassmagnetsinn erklären können“, erläutert Solov’yov. „Einen endgültigen Beweis gibt es bislang jedoch nicht.“ Hierzu fehlt noch ein Experiment, mit dem die Forscher zeigen können, dass sich Cryptochrom im Vogelauge tatsächlich wie theoretisch vorhergesagt verhält – und dem Tier die Richtung weist.
Die zur Navigation nötige Magnetfeldkarte zeichnen Zugvögel vermutlich mithilfe ihres Schnabels auf. Hier stießen Wissenschaftler auf eisenhaltige Partikel, die sich wie kleine Kompassnadeln im Magnetfeld der Erde ausrichten und somit als Magnetsensoren infrage kommen könnten. Mittlerweile wies man die Eisenteilchen aber an unerwarteter Stelle im Schnabel nach – in sogenannten Fresszellen des Immunsystems. „Diese Zellen sind dafür verantwortlich, den Abfall aus dem Organismus fortzuschaffen“, so Solov’yov. „Sie können auf keinen Fall zu einem Magnetsinn führen.“
Ob die Eisenteilchen dennoch eine Rolle spielen, ist ungewiss. „Irgendetwas Wichtiges passiert im Schnabel. Wir wissen nur nicht was“, so Solov’yov. Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete – Quantenphysiker, Biologen und Vogelkundler – suchen gemeinsam nach neuen Erkenntnissen. Relevant ist die Forschung nicht nur für Zugvögel. Denn inzwischen ist bekannt, dass auch viele Säugetiere, Reptilien und Insekten über einen Magnetsinn verfügen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/wie-finden-zugvoegel-den-weg/