Der Stoff, aus dem die Sterne sind

Sebastian Hollstein

Porträt von Cecilia Payne

Britta von Heintze/Welt der Physik

Vor 100 Jahren verließ Cecilia Payne ihre britische Heimat, um am Harvard College Observatory die Sterne zu studieren. Dort fand sie heraus, dass Sterne vor allem aus Wasserstoff und Helium bestehen. Ihre Doktorarbeit gilt bis heute als eine der genialsten, die jemals in der Astrophysik verfasst wurden – und das, obwohl die Wissenschaftlerin auf Druck männlicher Kollegen ihre Ergebnisse selbst zensierte.

„Höchstwahrscheinlich nicht richtig“, notierte Cecilia Payne unter ihre Doktorarbeit und sollte diese Einschränkung der eigenen Forschungsleistung zeitlebens bereuen. Ohne die Relativierung hätte sie ihre Dissertation jedoch nie einreichen können. Denn für renommierte männliche Kollegen war es kaum vorstellbar, dass ausgerechnet eine 25-jährige Doktorandin vorherrschende Lehrmeinungen auf den Kopf stellte. Als „eindeutig unmöglich“ bezeichnete Henry Norris Russell, der damals angesehenste Astronom der USA, die Forschungsergebnisse der jungen Wissenschaftlerin über die elementaren Bestandteile der Sterne. Vier Jahre später veröffentlichte er eine eigene Arbeit dazu und gab Cecilia Payne recht – mit einem einzigen Satz. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sie die gebührende Anerkennung bekam – als erste weibliche Professorin der Harvard University und als eine der Begründerinnen der modernen Astrophysik.

Schon als Kind entwickelte Cecilia Payne einen ausgeprägten Wissensdurst. Am 10. Mai 1900 nahe London in ein bürgerliches Elternhaus geboren, wurden Cecilia und ihre beiden jüngeren Geschwister von ihrer Mutter Emma erzogen. Ihr Vater Edward – ein Jurist und Historiker – ertrank, als sie vier Jahre alt war. Emma Payne legte großen Wert auf eine klassische Bildung und unternahm viele Reisen mit ihren Kindern. Doch zur streng christlichen Schule, die Mädchen vor allem auf ein Leben als gute Ehefrauen vorbereiten sollte, wollte Cecilias Leidenschaft für Naturwissenschaften nicht passen. Also musste sie einfallsreiche Strategien entwickeln, um an das Wissen zu gelangen, das sie suchte: So bat sie einmal einen Buchbinder, ein Werk Platons, das sie gerade las, mit einem Bibeleinband zu versehen, um die Lehrer zu täuschen. Ein Jahr vor ihrem Abschluss eskalierte die Situation: Cecilia flog von der Schule. Doch die fortschrittliche St. Paul's School for Girls nahm sie auf, sodass sie ihre Ausbildung 1919 abschließen konnte. Wenige Monate später schrieb sie sich mit der ungewöhnlichen Fächerkombination Botanik, Chemie und Physik am Newnham College – einem reinen Frauencollege – in Cambridge ein.

Eine neue Leidenschaft

Dunkler Kreis mit leuchtendem Rand und dahinter hervortretenden Strahlen.

Sonnenfinsternis im Jahr 1919

Doch Botanik und Chemie rückten schnell in den Hintergrund, nachdem sie Anfang Dezember einen Vortrag von Arthur Eddington gehört hatte. Der angesehene Astrophysiker berichtete über seine Expedition auf die westafrikanische Insel Principe, wo er am 29. Mai eine totale Sonnenfinsternis beobachtet und dabei Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zum ersten Mal nachgewiesen hatte. Die junge Studentin war von Eddingtons Ausführungen begeistert. Direkt nach dem Vortrag habe sie ihn Wort für Wort aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, berichtet sie in ihrer Autobiographie. Etwa drei Nächte habe sie nicht geschlafen. „Meine Welt war so erschüttert, dass ich eine Art Nervenzusammenbruch erlitt.“

Da ein Fachwechsel zur Astronomie nicht möglich war, verschob sie ihren Schwerpunkt auf die Physik. Als einzige Frau in einer Physikvorlesung musste Cecilia – mit fast 1,80 Meter auffällig groß gewachsen – in der ersten Reihe des Hörsaals Platz nehmen, bevor Chemienobelpreisträger Ernest Rutherford die Studierenden süffisant mit „Ladies and Gentlemen“ begrüßte. Im berühmten Cavendish Laboratory besuchte sie zudem Vorlesungen bei Niels Bohr, einem weiteren Nobellaureaten und Atomphysikpionier. Außerdem belebte sie die kleine Sternwarte von Newnham wieder und beobachtete den Sternenhimmel im großen Cambridge Observatory.

Doch in Großbritannien stand ihr als Frau höchstens eine Laufbahn als Lehrerin und keine wissenschaftliche Karriere offen. Daher siedelte sie nach Ende ihres Studiums 1923 vom britischen Cambridge nach Cambridge in Massachusetts über: an die Harvard University.

Seit den 1880er-Jahren war das Observatorium der Eliteuniversität zum internationalen Zentrum der Astrophysik aufgestiegen. Maßgeblich dafür waren zum einen neuartige, verbesserte Fotoplatten zum Abfotografieren des Sternenhimmels und neue Entwicklungen im Bereich der Astrospektroskopie. Zum anderen waren es die Frauen, die hier als „Computer“ – also als Rechnerinnen – arbeiteten. Sie erfassten die Fotografien und Spektren auf unzähligen Glasplatten, die sowohl in Massachusetts als auch beispielsweise in einem Außenposten in den Anden aufgenommen wurden, und klassifizierten und katalogisierten die dazugehörigen Sterne.

Spektren lesen

Diese Frauengesellschaft nahm die inzwischen 23-jährige, zurückhaltende und zielstrebige Engländerin herzlich auf, als sie im Herbst 1923 ihre Promotion am Radcliffe College – ebenfalls ein reines Frauencollege – begann. Die Doktorandin wollte die Sternspektren studieren und sowohl die chemischen Bestandteile als auch den physikalischen Zustand der Sterne ermitteln. Bis spät in die Nacht vergrub sich Cecilia Payne in ihrem Büro, nahm die „winzigen parallelen Striche“ auf den Glasplatten buchstäblich unter die Lupe und ging erst zu Bett, als der Aschenbecher auf ihrem Schreibtisch überlief.

Doch was genau ließ sich aus den Sternspektren überhaupt herauslesen? Die dünnen schwarzen Linien, sogenannte Fraunhoferlinien, im Spektrum des Sonnenlichts – oder im Licht jedes anderen Sterns – stellen eine Art Signatur für chemische Elemente dar: Sie entstehen, wenn das vom Stern ausgesendete Licht teilweise von Atomen in höheren, kühleren Atmosphärenschichten absorbiert wird. Jedes Element absorbiert andere Wellenlängen – man kann also aus dem Spektrum eines Sterns ablesen, woraus er besteht. In der Zeit, als Cecilia Payne studierte, war es nahezu Gesetz, dass die Sterne im Großen und Ganzen aus den gleichen Elementen bestehen müssten wie die Erde – in ungefähr den gleichen Mengenverhältnissen. Denn man stieß in den Linienmustern tausender ausgewerteter Sternspektren immer wieder auf die gleichen Signaturen.

Wasserstoff und Helium

Bei der Analyse der Spektrallinien war ein elementarer Vorgang bisher allerdings nicht berücksichtigt worden: Wenn ein Atom durch Energie von außen zum positiv geladenen Ion wird, verändern sich auch die Linien, die es im Licht hinterlässt – ein Effekt, der auch von der Temperatur abhängt. Cecilia Payne glich die Ergebnisse theoretischer Berechnungen mit den beobachteten Sternspektren ab und zog somit Rückschlüsse auf die Temperaturen einzelner Sterne. Dabei wies sie nach, dass sich die damals geläufige Klassifizierung der Sterne in Spektralklassen an der Temperatur orientierte.

Balken in allen Farben des sichtbaren Lichts.

Harvard-Klassifikation von Sternspektren

Doch nicht nur das: Die Intensität der Linien erlaubte auch Rückschlüsse auf die Häufigkeit bestimmter Elemente. Und das brachte die junge Wissenschaftlerin zu einer bahnbrechenden Entdeckung: Sterne unterscheiden sich in ihrer stofflichen Zusammensetzung kaum voneinander. Sie bestehen tatsächlich aus den gleichen Elementen wie die Erde, allerdings überwiegen dabei zwei Elemente deutlich: Wasserstoff und Helium. Wasserstoff beispielsweise kommt etwa eine Million Mal häufiger vor als auf der Erde.

Dieses Resultat überraschte sowohl die Fachwelt als auch seine Urheberin selbst. Payne suchte in ihren Berechnungen immer wieder nach Fehlern – ohne Erfolg. Ihr Mentor, Observatoriumsdirektor Harlow Shapley, schickte schließlich einen ersten Entwurf ihrer Doktorarbeit an Henry Norris Russell, den Direktor des Princeton University Observatory. Dieser zeigte sich angetan. „Ich bin besonders beeindruckt von dem umfassenden Verständnis des Themas, der Klarheit des Stils und dem Wert der eigenen Ergebnisse von Miss Payne“, schrieb er an Shapley. Ihre Schlussfolgerungen hinsichtlich der stellaren Bestandteile allerdings fielen bei ihm durch. Zu groß war seine Überzeugung, dass die Sterne aus den gleichen Materialien in gleichen Mengen aufgebaut seien wie die Erde.

Eine Dissertationsschrift, die der damals wichtigste Astronom des Landes ablehnte, hatte keinen Bestand. Deshalb relativierte Payne ihre Ergebnisse mit der Ergänzung: „Die größten Diskrepanzen zwischen den astrophysikalischen und den terrestrischen Häufigkeiten sind bei Wasserstoff und Helium zu beobachten. Die enorme Häufigkeit, die für diese Elemente in der Sternatmosphäre abgeleitet wurde, ist höchstwahrscheinlich nicht richtig.“ Die Arbeit erfüllte ihren Zweck: 1925 wurde sie am Radcliffe College promoviert. Der Astronom Otto Struve schrieb noch Jahre später, die Dissertation „Stellar Atmospheres“ sei unzweifelhaft die beste Doktorarbeit, die jemals in Astronomie geschrieben worden war. In der Folge stützten immer mehr Arbeiten Paynes These. Und auch Russell änderte seine Meinung – und erwähnt in seinem 1929 erschienenen Werk „On the Composition of the Sun's Atmosphere“ Paynes Dissertation. Dass er sie dazu gedrängt hatte, ihre Ergebnisse in Frage zu stellen, gab er hingegen nie zu. Payne beschäftigte dieser Vorgang lange. „Es hat sie nicht belastet. Aber ihr ganzes Leben lang bedauerte sie diese Entscheidung“, berichtete ihre Tochter Katherine später.

Payne-Gaposchkin

Einen großen Karriereschub bedeuteten die Erfolge für Cecilia Payne jedoch nicht. Nach ihrer Dissertation war sie mit niedrigem Gehalt als Technische Assistentin am Observatorium angestellt. Ihre Aufgaben unterschieden sich kaum von denen eines voll bezahlten Universitätsangestellten: Sie forschte, betreute Dissertationsprojekte, war für die Publikationen des Hauses verantwortlich und unterrichtete. Ihr Name allerdings tauchte nicht im offiziellen Vorlesungsverzeichnis auf. Die Universitätsleitung um Abbott Lawrence Lowell untersagte jegliche Lehraufträge für Frauen in Harvard. „Miss Payne“ solle nie eine Position an der Universität bekleiden, so lange er lebe, hatte der Präsident gegenüber Shapley klargestellt.

Mehrere Kuppeln und Gebäude eines Observatoriums.

Harvard College Observatory

Frustriert von dieser Situation und aufgewühlt von einigen Schicksalsschlägen – zwei ihrer besten Freundinnen waren unabhängig voneinander ertrunken – beschloss die schüchterne Astronomin, sich der Welt mehr zu öffnen. Sie trat 1933 eine Forschungsreise nach Europa an. Während einer Konferenz in Göttingen wandte sich der in Nazideutschland gestrandete russische Astronom Sergej Gaposchkin hilfesuchend an sie. Cecilia Payne besorgte ihm ein Visum und eine Stelle in Harvard. Im März 1934 heiratete sie ihn und fügte seinen Namen ihrem an. Ihre wissenschaftliche Laufbahn beendete das ebenso wenig wie die Geburt ihrer drei Kinder. Ganz im Gegenteil: Völlig unüblich für diese Zeit arbeite Cecilia Payne auch während der Schwangerschaften und hielt Vorträge. Das Paar arbeitete jahrzehntelang zusammen – nicht selten umgeben von ihrem Nachwuchs, der aufgrund fehlender Betreuung die Tage im Observatorium verbrachte. Die Rollen waren dabei klar verteilt: Cecilia war die bessere Wissenschaftlerin, Sergej übernahm eine größere Rolle im Haushalt.

Trotz ihrer Popularität änderte sich der Status der herausragenden Astronomin erst rund 20 Jahre später mit dem Wechsel des Direktoriums: Entsetzt über die schlechte Bezahlung seiner Kollegin verdoppelte der neue Observatoriumsdirektor Donald Menzel 1952 ihr Gehalt. Im Juni 1956 schließlich wurde sie zur Professorin ernannt – als erste Frau an der Harvard University. Zur Feier ihres Erfolgs lud die schüchterne Cecilia alle Astronomiestudentinnen handschriftlich zu einer Feier ein.

Einige Monate später wurde sie zudem die erste Institutsdirektorin an ihrer Universität. Von nun an verlagerte sich ihre Arbeit zunehmend: Hatte sie bis 1942 rund 140 Paper zu Sternspektren und -photometrie und mehrere Bücher veröffentlicht, so war sie jetzt vor allem mit Vorlesungen und Verwaltungsaufgaben beschäftigt.

Am 7. Dezember 1979 starb Cecilia Payne-Gaposchkin als international hoch geachtete und ausgezeichnete Wissenschaftlerin an Lungenkrebs. Drei Jahre zuvor hatte sie einen der wichtigsten Preise für die Lebensleistung von Astronominnen und Astronomen erhalten: den Henry Norris Russell Lectureship. Jahrzehnte später gibt es auch einen Preis in ihrem Namen – für herausragenden Dissertationen in der Astrophysik.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/im-portraet/cecilia-payne-der-stoff-aus-dem-die-sterne-sind/