Astronom in Zeiten des Umbruchs
Sebastian Hollstein
Im 17. Jahrhundert veränderte sich die Wissenschaftswelt rasant: Könige großer Nationen entdeckten die Naturwissenschaften als Fortschrittsversprechen und Prestigeobjekt. Sie ermöglichten kontinuierliches Arbeiten, Spezialisierung und förderten sowohl internationale Konkurrenz als auch Zusammenarbeit. Mittendrin ein Spitzenforscher, der sich auf diesem internationalen Parkett souverän bewegte: der Astronom Giovanni Domenico Cassini.
Während die europäische Wissenschaft mit Umbrüchen des Weltbilds rang, zweifelte er an den Ellipsenbahnen der Planeten und war von Newtons Gravitation nicht überzeugt: Giovanni Domenico Cassini war kein Mann der revolutionären Thesen. Seinen Namen machte er sich vielmehr durch präzise Himmelsbeobachtungen und ein großes Organisationstalent. Zudem besaß Cassini Qualitäten, die Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher auch heute noch auszeichnen: Er nutzte die Möglichkeiten, die sich ihm boten, pflegte ein Netzwerk wertvoller Kontakte, er manövrierte sich geschickt durch die Umbrüche eines wechselvollen Jahrhunderts – und war dabei so erfolgreich, dass kein geringerer als der Sonnenkönig Ludwig XIV. den Italiener nach Paris holen sollte.
Die Macht der Sterne
Dabei verdankte Cassini den Start seiner wissenschaftlichen Laufbahn einer im Niedergang begriffenen Lehre – und einem Missverständnis. Als Giovanni Domenico Cassini 1625 in Perinaldo, einem kleinen Ort in den Bergen nicht weit vom Ligurischen Meer rund 50 Kilometer östlich von Nizza, geboren wurde, hatte die Astrologie ihre goldenen Zeiten hinter sich. Seit jeher hatten Könige und andere mächtige Persönlichkeiten auf die Kraft von Sterndeutern vertraut und sich durch astrologische Vorhersagen Hilfe bei wichtigen Entscheidungen erhofft. Doch im Laufe des 17. Jahrhunderts verlor der Glaube an einen Einfluss der Sterne auf den Menschen an Bedeutung: Durch ihre zunehmende Professionalisierung verdrängte die Astronomie die Astrologie als Wissenschaft. Die Erfindung des Teleskops machte präzisere Beobachtungen von Himmelskörpern und entsprechend genauere Berechnungen ihrer Positionen möglich – und die widerlegten oft astrologische Annahmen.
Eigentlich stammte Cassini aus einfachen Verhältnissen, doch dank seiner Intelligenz und weil ein Onkel ihn während seiner Ausbildung unterstützte, schaffte er es auf das Jesuitenkolleg in Genua. Schnell verinnerlichte er die Lehren der Ordensgemeinschaft, verfasste religiöse Gedichte und diskutierte über theologische Thesen. Er fühlte sich beseelt – jedoch nicht berufen, in die Kirche einzutreten und ihr sein ganzes Leben zu widmen. Als ein korsischer Geistlicher ihn auf einer Reise mit astrologischen Schriften bekannt machte, war er zunächst fasziniert. Doch die anfängliche Begeisterung wich schnell der Erkenntnis, „dass es nichts Solides in ihren Gesetzen gab und dass nur die Astronomie Aufmerksamkeit verdiente“, wie er später in seinen Memoiren schrieb.
Trotzdem sollte ihm ausgerechnet die Astrologie den Weg in die Wissenschaft ebnen und seine erste Stelle in einem universitären Umfeld verschaffen: Denn als er wenig später gefragt wurde, wie ein Feldzug des Papstes gegen den Herzog von Parma ausgehen würde, antwortete er, dass dieser siegen werde. Cassini hielt das einfach für das wahrscheinlichste Szenario. Der General, der den Angriff anführen sollte und dem die Vorhersage schmeichelte, glaubte hingegen, es sei eine astrologische Prophezeiung und empfahl ihn weiter an Cornelio Malvasia – Senator der Stadt Bologna, päpstlicher Vertrauter und einflussreicher Mäzen. Cassini hatte wenig Interesse, den Irrtum aufzuklären: Immerhin verschaffte Malvasia dem 23-jährigen vermeintlichen Wahrsager eine Stelle am Observatorium in dem kleinen Dorf Panzano und einen Studienplatz an der nur wenige Kilometer entfernten Universität Bologna. Hier studierte er Mathematik und Astronomie und erhielt 1651 – protegiert von seinen Lehrern – einen Professorentitel.
Geozentrisch? Heliozentrisch? Tychonisch!
Für die junge Disziplin der Astronomie war es eine Zeit des Umbruchs. Das etablierte geozentrische Weltbild hatte durch Kopernikus‘ These, dass die Sonne im Zentrum des Universums ruht, erhebliche Konkurrenz bekommen. Mangels eindeutiger Belege für jede der beiden Seiten diskutierten Forscher, Geistliche und Gesellschaft die verschiedenen Modelle zunehmend konfrontativ. In Italien eskalierte der Konflikt schließlich 1633, als die Römische Inquisition Galileo Galilei dazu verurteilte, eine Schrift zu widerrufen, in der er sich klar für das heliozentrische Weltbild aussprach.
Cassini hingegen beteiligte sich nicht an solch theoretischen Debatten. Für seine Forschung war es nicht entscheidend, was nun genau in der Mitte des Universums stand – er konzentrierte sich vor allem auf möglichst präzise Beobachtungen des Sternhimmels und damit verbundene genaue Berechnungen. Zeitlebens positionierte er sich nie klar zum heliozentrischen Weltbild. Vielmehr favorisierte er eine Kompromisslösung: das tychonische Weltsystem. Darin stellte der dänische Astronom Tycho Brahe eine unbewegliche Erde in die Mitte des Universums, um die eine sich bewegende Sonne kreist – um die wiederum alle anderen Planeten kreisten. Unter jesuitischen Astronomen, darunter Cassinis Mentor Giovanni Riccioli, war diese Idee sehr populär.
Doch auch Galileis Arbeit lehnte er nicht ab – er akzeptierte das heliozentrische Weltbild als Hypothese und profitierte von Weiterentwicklungen der Teleskope, für die auch Galilei verantwortlich war. Mitunter setzte er gar da an, wo sein berühmter Kollege aufgehört hatte: Galilei hatte vier große Jupitermonde entdeckt und festgestellt, dass sie sich regelmäßig um ihren Planeten bewegten. Deshalb entwickelte er die Idee, dass man die Trabanten als eine Art Uhr verwenden und nach ihnen navigieren könne. Cassini griff diese Idee auf, beobachtete die Monde und hielt ihre Positionen zu einem jeweiligen Zeitpunkt in Tabellen fest. Und stellte fest: An Land funktionierte diese Methode sehr gut – für den schaukelnden Untergrund auf einem Schiff war es allerdings zu schwierig, die Monde mit einem Teleskop im Blick zu behalten.
Doch Cassini verfolgte auch viele eigene Ideen und beobachtete im Lauf seiner Karriere systematisch und gewissenhaft die verschiedensten Himmelskörper. Dabei kamen im Lauf der Jahre einige herausragende Observationserfolge zusammen. Nachdem Cassini seine erste astronomische Publikation im Jahr 1652 der Beobachtung eines Kometen gewidmet hatte, beschäftigte er sich während seiner Karriere immer wieder mit diesen Himmelskörpern und entwickelte beispielsweise Methoden weiter, mit denen man ihre Position und Flugbahn berechnen konnte. Er entdeckte 1664 und 1665 die farbigen Bänder des Jupiters, Abflachungen an dessen Polen und – etwa gleichzeitig mit Robert Hooke – den als Großen Roten Fleck bekannten Wirbelsturm. Ein Jahr später identifizierte er die weißen Polkappen des Mars und registrierte weitere Strukturen auf der Oberfläche des Roten Planeten, die ihm dabei halfen, dessen Rotationsdauer sehr genau zu berechnen. Insgesamt entdeckte Cassini vier Monde des Saturn: zunächst zwischen 1671 und 1672 Rhea und Iapetus sowie 1684 Dione und Tethys. Außerdem sah er als erster eine Lücke zwischen dem sogenannten A-Ring und dem B-Ring des Ringplaneten – die „Cassinische Teilung“.
Cassini Royal
Diese und weitere Erfolge gelangen Cassini nicht zuletzt aufgrund seiner technischen Fähigkeiten – und weil er viel investierte, um für die damalige Zeit hochmoderne Instrumente zur Verfügung zu haben. Hierfür pflegte er gute Kontakte zu zwei der weltweit besten Teleskopbauer, Guiseppe Campani und Eustachio Divini in Rom. Überhaupt setzte er auf ein umfangreiches Netzwerk aus einflussreichen Personen und bewegte sich sicher zwischen all den Adligen und Würdenträgern. Bereits als junger Mann in Genua hatte er Freunde aus einflussreichen Patrizierfamilien bis in höchste Kreise gewonnen – Bekanntschaften, die er vermutlich nicht allein seiner Genialität, Eloquenz und Fleiß zu verdanken hatte, sondern auch einem einnehmenden Wesen.
Dazu kam ein gewisses Gespür für Publicity und spektakuläre Auftritte: So lud er etwa am Tag der Sommersonnenwende 1655 alle Interessierten per gedruckter Schrift dazu ein, ihm beizuwohnen, wenn er in der Basilika San Petronio mit den Arbeiten für einen neuen Meridian begann. Dabei handelt es sich um eine Linie in perfekter Nord-Süd-Ausrichtung, die die Bewegung der Sonne sichtbar und messbar macht. Cassinis Linie markiert ein Messingstreifen, der in den Kirchenboden eingelassen is – mit fast 68 Meter ist sie noch heute die längste ihrer Art weltweit. Das wichtigste am Meridian ist jedoch das Sonnenlicht: Durch 27 Millimeter großes Loch in 27 Meter Höhe fällt es so in den Raum, dass die Sonne mittags immer einen Fleck genau auf dem Meridian beleuchtet. Im Lauf des Jahres wandert das Licht die Linie entlang. So konnten Forschende damit die Jahreslänge bestimmen und die Sonnenbahn präzise berechnen.
Für Cassini und seine Kollegen bot der Meridian somit eine Arbeitsgrundlage: Sie führten daran viele Untersuchungen durch, etwa zur Ekliptik oder zur atmosphärischen Brechung des Sonnenlichts. Vor allem aber erhielt Bologna eine touristische Attraktion, die Besucherinnen und Besucher bis heute anlockt. „Ehrwürdige Bologneser“, schrieb Cassini in einem Flugblatt nicht ohne Pathos, „das Reich der Astronomie gehört jetzt Euch.“
Der Meridian machte den jungen Astronomen berühmt und erweiterte seinen Bekanntenkreis auf blaublütiges Niveau. Als die abgedankte Königin Christina von Schweden Bologna besuchte, ließ sie sich von Cassini den Meridian erklären und freundete sich mit ihm an. Später sollte er nicht nur zum französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. regelmäßigen Kontakt pflegen, sondern auch zu Charles II. von England, der sich in dieser Zeit im französischen Exil aufhielt. Papst Alexander VII. schien nicht nur von seiner wissenschaftlichen Reputation beeindruckt gewesen zu sein, sondern auch von dem Organisationsgeschick, das Projekte wie die Berechnung und Installation des Meridians erforderten. Deshalb ernannte er den vielseitig aufgestellten Wissenschaftler zunächst zum Oberaufseher für die Festungsanlage Forte Urbano und übertrug ihm 1665 das gleiche Amt für Gewässerfragen des Kirchenstaats – mit entsprechender Bezahlung. An der Universität Bologna erhielt er darüber hinaus eines der höchsten Gehälter, das jemals dort gezahlt wurde – wahrscheinlich um zu verhindern, dass er zur Konkurrenz nach Padua abwanderte.
Jean-Dominique
Trotzdem konnte die Universitätsleitung nicht verhindern, dass Cassini schließlich 1669 nach Paris wechselte. Grund dafür waren wohl die großen Veränderungen in der europäischen Forschungslandschaft. Zunehmend entstanden große Institutionen, in denen Länder ihre Expertise bündelten: In England entstand 1660 mit der Royal Society Europas erste nationale Akademie der Wissenschaften, die Charles II. zwei Jahre später unter seine königliche Schirmherrschaft stellte; als der französische Finanzminister Jean-Baptiste Colbert Ende 1666 die Académie des sciences ins Leben rief, zog Ludwig XIV. von Frankreich nach. Die Monarchen erhofften sich dadurch wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch einen Prestigegewinn für sich und ihre Reiche. Ein Jahr nach der Gründung legte Colbert nach und beschloss eine erste große Investition, die französische Astronomen sich schon seit Jahren erbeten hatten: Er gründete das Pariser Observatorium, das alle anderen Einrichtungen dieser Art weltweit vor allem dank seiner Ausstattung in den Schatten stellen sollte. Und um als ersten Leiter einen Wissenschaftler von internationalem Rang zu gewinnen, nahm er viel Geld in die Hand.
Die Italienischen Stadtstaaten hingegen verloren in der Wissenschaft zunehmend an Bedeutung. Zum einen waren die Förderungen von Forschung hier häufig an einzelne Personen geknüpft – langfristige Vorhaben über deren Tod hinaus waren nicht gesichert. Die neuen Institutionen in Frankreich und England boten hier mehr Spielraum. Zum anderen hatte der Umgang mit Galileo Galilei dem Wissenschaftsstandort geschadet, da viele darin eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit sahen. Als also Colbert Cassini den Posten als erster Direktor des Pariser Observatoriums anbot, bedeutete dies eine Vielzahl von Möglichkeiten, die er in Italien nicht hatte.
Cassini stürzte sich begeistert in seine neue Aufgabe. Er begleitete Bau und Ausstattung des Gebäudes und nahm Änderungen an den Entwürfen vor – zum Missfallen des ausführenden Architekten. Die Teleskope bestellte der Italiener in Rom bei Divini und Campani. Das Gebäude, in dem Cassini auch wohnte, wurde zwar 1671 in Betrieb genommen, der Innenausbau dauerte aber weitaus länger. Doch dann konnte er sich endlich einzig und allein auf die Astronomie konzentrieren – und das in einem äußerst anregenden Umfeld. Denn das neue Observatorium wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem Zentrum für hochtalentierte Wissenschaftler aus ganz Europa. Neben dem Austausch mit Besucherinnen und Besuchern korrespondierte Cassini mit englischen Kollegen wie Robert Hooke oder John Flamsteed, der als erster „Astronomer Royal“ der englischen Krone eine ähnliche Stellung am königlichen Observatorium in Greenwich innehatte. Trotz Konkurrenz teilte die Wissenschaftsgemeinschaft ihr Wissen, diskutierte ihre Ergebnisse und arbeitete zusammen – gemeinsam mit dem niederländischen Astronomen Christiaan Huygens erforschte Cassini etwa den Saturn.
Von Paris aus koordinierte der Direktor auch Unternehmungen, die nur solch großen Institutionen möglich waren. So schickte er Jean Richer ins heutige Französisch-Guyana in Südamerika, um dort die Position des Mars während seines Perigäums zu bestimmen – also während er der Erde am nächsten ist. Cassini maß in Paris ebenfalls nach. Durch den Vergleich beider Werte konnte er die Entfernung von Sonne und Mars bestimmen: Denn je näher ein Himmelskörper der Erde ist, desto stärker verschiebt sich seine Position am Himmel, wenn man ihn von verschiedenen Orten aus betrachtet – die sogenannte Parallaxe. Auch wenn Cassini mit seinen Einschätzungen und Berechnungen nicht immer richtig lag – er ging etwa davon aus, dass nicht die Pole abgeflacht seien, sondern der Äquator – so gehörte er spätestens durch seine Arbeiten in Paris zu den wichtigsten Astronomen dieser Zeit und förderte die Popularität der Wissenschaft enorm.
Ursprünglich war Giovanni Domenico Cassini davon ausgegangen, nach wenigen Jahren wieder nach Italien zurückzukehren. Doch zur eigenen Überraschung wurde er in der französischen Hauptstadt schließlich heimisch. 1673 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an und änderte seinen Vornamen in Jean-Dominique. Ein Jahr später heiratete er die angesehene und reiche Geneviève de Laistre, die er vermutlich sogar in seiner Mondkarte von 1679 verewigte. Mit seinem Sohn begründete er sogar eine ganze Astronomiedynastie: Jacques Cassini arbeitete eng mit seinem Vater zusammen, der in seinen letzten Jahren langsam erblindete. Nach dem Tod Giovanni Domenico Cassinis 1712 folgte dessen Sohn als Direktor des Pariser Observatoriums – so wie später auch sein Sohn und dessen Sohn. Erst 1795 übernahm der erste Nicht-Cassini das Amt.
Cassini-Mission
Die Zusammenarbeit zwischen Giovanni Cassini und Christiaan Huygens bei der Erforschung des Saturn inspirierte Forscherinnen und Forscher der NASA dazu, eine Mission zum Gasriesen nach beiden zu benennen. Der Orbiter „Cassini“ setzte den Lander „Huygens“ Weihnachten 2004 am Mond Titan ab, passierte weitere Monde und sammelte wertvolle Daten, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch heute auswerten. Die Sonde verglühte schließlich 2017 in der Atmosphäre des Saturn.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/im-portraet/giovanni-domenico-cassini-astronom-in-zeiten-des-umbruchs/