„Ich könnte es moralisch nicht vertreten, still zu sein.“
Wiebke Schuppe
Victoria Grinberg wagt sich an die extremsten Umgebungen im Universum. Als Forscherin der ESA am European Space Research and Technology Centre in den Niederlanden untersucht sie Schwarze Löcher und die Sternwinde ihrer massereichen Begleitsterne. Dafür wurde Sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Doch auch die extremer werdenden Bedingungen auf der Erde machen der Astrophysikerin zu schaffen – weshalb sie in ihrer Freizeit die Bewegung „Astronomers for Planet Earth“ mit ins Leben gerufen hat.
Frau Grinberg, würden Sie sich als Klimaaktivistin bezeichnen?
Victoria Grinberg: Ich tue mich ein bisschen schwer mit der Selbstbezeichnung Aktivistin, aber wenn andere Leute diese an mich herantragen, ist es okay. Es gab einen schönen Spruch von Gregor Hagedorn, dem Mitbegründer von Scientists for Future: „Ob wir – als Wissensschaffende oder Wissenskommunizierende – schweigen oder reden: beides ist politisch.“ Insofern kann ich nicht einfach meine Wissenschaft weitermachen, ohne etwas zur Klimakrise zu sagen: Es wäre mit meinem moralischen Kompass nicht vertretbar, still zu sein. Ich mache das, was gemacht werden muss.
Haben Sie Angst vor dem Klimawandel?
Ja, habe ich. Der Klimawandel ist real. Wir sehen jetzt schon die Auswirkungen des einen Grad, um das es auf der Erde wärmer geworden ist. Ich tue das, was in meiner Kraft liegt, und versuche, der Angst ins Auge zu schauen. Aber ich versuche auch, dabei realistisch zu sein. Denn so, wie die Welt gerade ist, werden wir nicht sofort unseren ganzen CO2-Abdruck auf Null reduzieren können – so schön das wäre. Und selbst wenn wir das täten, ist es nicht so, dass die Erde sofort wieder abkühlen würde. Da haben wir größere Effekte losgetreten. Ich wünschte, ich hätte eine ermutigendere Antwort darauf.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, was Sie dazu gebracht hat, selbst aktiv zu werden?
Ja, es gab ein einschneidendes Erlebnis: Ich war im Jahr 2019 mit einigen Kolleginnen und Kollegen auf der Konferenz der European Astronomical Society. Sie war in diesem Jahr in Lyon, genau zu der Zeit, als die – bis zu diesem Zeitpunkt – schlimmste Hitzewelle in Frankreich war.
Viele von uns sind mit dem Flugzeug gekommen. Wir waren in den Räumlichkeiten einer Uni, ohne Klimaanlage. Es waren 40 Grad, es war absolut unerträglich. Irgendwann haben wir uns die Frage gestellt: Uns geht es zwar durch die Hitze schlecht, aber sind wir vielleicht auch ein Teil des Problems? Aus dieser Diskussion, die auch auf Sozialen Medien unter uns angefangen hat, ist der Wunsch entstanden, aktiv zu werden. Dabei haben wir gemerkt, dass es den Kolleginnen und Kollegen in den USA genauso geht. Sie haben eine Vereinigung gegründet, die sich Astronomers for Planet Earth nennt. Also haben wir den Kontakt gesucht und uns alle zu einer gemeinsamen Basisorganisation zusammengeschlossen. Wir stellen uns zusammen den Fragen: Wie tragen wir als Menschen, die Astronomie machen, zur Klimakrise bei? Und wie können wir damit aufhören? Aber auch: Wie können wir Astronomie dafür nutzen, den Menschen etwas über das Klima und die Klimakrise beizubringen? Wir sind zwar keine Klimaforschenden, aber Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler. Wir wissen, wie das wissenschaftliche System funktioniert, wie wissenschaftliche Erkenntnis funktioniert. Wir können also durchaus vermitteln, warum wir überhaupt glauben, dass die Klimakrise menschengemacht ist!
Wie versuchen Sie, das zu erreichen? Und wie sieht Ihre Arbeit für Astronomers for Planet Earth aus?
Ich halte viele öffentliche Vorträge – sowohl in der Wissenschaft als auch außerhalb –, in denen ich aktuelle Erkenntnisse erkläre. Zum Beispiel haben wir als Konsequenz der Erfahrung aus Lyon den CO2-Abdruck von astronomischen Konferenzen genau angeschaut und die Erkenntnisse veröffentlicht. Dazu haben wir eine Umfrage gestartet, wie die Leute nach Lyon angereist sind, und daraus den CO2-Abdruck der Reisen zu der Konferenz errechnet. Im Folgejahr fand die Konferenz wegen der COVID-19-Pandemie rein digital statt, und auch da haben wir den CO2-Abdruck abgeschätzt. Wir haben also einen direkten Vergleich: Der CO2-Abdruck der digitalen Konferenz war rund 3 000 Mal kleiner als der einer Konferenz vor Ort. In einer anderen Studie haben wir den CO2-Abdruck astronomischer Institute bestimmt und überlegt, an welchen Stellschrauben man dort drehen kann. An beiden Untersuchungen war ich beteiligt. Manchmal werde ich auch von einem Institut eingeladen und diskutiere nach einem Vortrag direkt mit anderen Forschenden: Welchen Einfluss hat eure Reise? Wollt ihr so weitermachen oder etwas ändern? Darüber hinaus wird es aktuell zeitlich sehr eng bei mir, um noch mehr in der Organisation beizutragen. Wir sind ein freier Zusammenschluss von Leuten: Alle machen, was sie gerade können.
Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass Sie sich mit dem Klima in Ihrer Freizeit beschäftigen – hauptberuflich forschen Sie als Röntgenastronomin bei der ESA. Was genau untersuchen Sie dort?
Ich forsche zu Schwarzen Löchern in Doppelsternsystemen, aber auch zu den Sternen, die Begleiter dieser schwarzen Löcher sind. Eine Möglichkeit, ein Schwarzes Loch überhaupt sichtbar zu machen, ist zu beobachten, wie Material von seinem Begleitstern hineinfällt. Die Begleitsterne, die mich interessieren, sind sehr massereiche Sterne, die eines Tages zu einer Supernova und vielleicht selbst zu einem Schwarzen Loch werden. Diese Sterne haben sehr starke Sternwinde. Sie können bis zu 20 oder 30 Prozent ihrer Masse durch die Sternwinde verlieren, sich sozusagen wegblasen. Diese Sternwinde sind ziemlich schwer zu verstehen.
Das Tolle an ihnen ist aber: Wenn nun ein Schwarzes Loch in der Nähe von so einem Stern ist, ist der Aufbau ähnlich wie bei einem Röntgengerät beim Zahnarzt. Da kann man mit dem Röntgengerät durch den Zahn schauen und sehen, ob Löcher darin sind, weil Röntgenstrahlung verschiedene Materialien unterschiedlich stark durchdringt. Das ist bei dem Stern ähnlich: Die Röntgenstrahlung, die entsteht, wenn Masse des Begleitsterns in das Schwarze Loch fällt, durchdringt wiederum den Sternwind. Dadurch können wir dessen Struktur erkennen und sehen, ob diese löchrig oder verklumpt ist. Daran forsche ich hauptsächlich – sozusagen als Zahnärztin für Sterne. Wenn wir mehr über die Schwarzen Löcher und ihre Begleitsterne lernen, dann können wir auch etwas über die Entwicklung der massereichen Sterne lernen. Und diese sind wichtig, weil in diesen Sternen viele Elemente entstanden sind, ohne die es heute überhaupt kein Leben auf der Erde gäbe.
Wie sind Sie zu diesem Forschungsthema gekommen?
Das war tatsächlich eher Zufall. Eigentlich bin ich im Studium immer davon ausgegangen, ich werde theoretische Kosmologie erforschen – das absolute Gegenteil von dem, was ich jetzt mache. Aber dann habe ich bei einer Sommerakademie einen Kurs zu Schwarzen Löchern gemacht und Menschen kennengelernt, mit denen es mir wahnsinnig Spaß gemacht hat, zu arbeiten. Dadurch bin ich immer tiefer in das Thema geraten. Gerade in der Forschung ist es wahnsinnig wichtig, Menschen zu haben, mit denen man gut zusammenarbeiten kann. Und Schwarze Löcher und ihre Begleitsterne sind einfach so ein tolles Thema für mich, dass man dafür die Kosmologie leicht beiseiteschieben kann.
Was fasziniert Sie daran so sehr?
Zum einen ist es der Traum jedes Science-Fiction Fans. Schwarze Löcher sind die verrückteste Theorie der Physik, die es so aber tatsächlich in dieser Welt gibt. Mich reizt aber auch die Herausforderung, an etwas zu forschen, das weit weg von unserem Alltag ist. Für mich ist es sehr faszinierend, dass wir so gute Vorhersagen darüber treffen können, was im Universum passiert, und es dann mit tatsächlichen Daten vergleichen können. Manchmal muss ich innehalten und mir klar machen: Wow, diese Punkte, die ich da auf meinem Bildschirm sehe, das sind tatsächlich Photonen, Lichtteilchen, die ganz aus der Nähe eines Schwarzen Lochs entkommen sind. Das ist umwerfend.
Hätten Sie sich einen anderen Berufsweg vorstellen können?
Am Anfang habe ich sehr gezweifelt, ob man in der Astrophysik überhaupt einen Job finden kann. Aber es hat mir geholfen, mit älteren Astrophysikerinnen und Astrophysikern zu reden und mir erzählen zu lassen, was sie genau machen. Ich habe mich schon immer für den Weltraum interessiert, schon als Kind habe ich sehr gerne Science-Fiction-Literatur gelesen. Im Physikstudium habe ich schnell gemerkt, dass ich viel Begeisterung für das Fach habe – auch, weil Astrophysik ganz viele Bereiche der Physik zusammenbringt: Quantenmechanik, Relativitätstheorie, Festkörperphysik. Ich glaube, ich wäre aber auch in einer anderen Wissenschaft glücklich geworden. Zum Beispiel als Biologin oder als Vulkanologin. Vulkane sind mein absoluter Traum! Mich fasziniert es, wie wenig wir über etwas wissen, das einen so gewaltigen Einfluss auf seine Umgebung haben kann. Und sie sind ein bisschen wie Astrophysik: absolut außerhalb menschlicher Kontrolle. Forschung hätte es aber schon unbedingt sein müssen – zumindest ein bisschen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/im-portraet/ich-koennte-es-moralisch-nicht-vertreten-still-zu-sein/