Aktivistin auf dem Lehrstuhl
Sebastian Hollstein
Im Oktober 1847 entdeckte die Amerikanerin Maria Mitchell einen Kometen – und wurde zum Star. Die Zuschreibung „erste Frau, die...“ war ein ständiger Begleiter in ihrer Biografie. Doch sie nutzte ihre Berühmtheit nicht nur, um als erste Astronomieprofessorin der Welt weiterzuforschen – sondern auch um sich für Frauenrechte in der Wissenschaft einzusetzen. Trotzdem war ihre Berufung nicht etwa der Auftakt für viele folgende Professorinnen, sondern noch für lange Zeit eine Ausnahme.
„In meinen jüngeren Tagen, als mich die halbgebildete, lockere und ungenaue Art, die wir alle an den Tag legten, betrübte, pflegte ich zu sagen: Wie sehr brauchen Frauen die Wissenschaft. Aber seit ich einige der in der Wissenschaft Tätigen kennengelernt habe, die den Lehren der Natur nicht immer gerecht wurden, die sich selbst mehr liebten als die Wissenschaft, sage ich: Wie sehr braucht die Wissenschaft Frauen.“ In ihrer Antrittsrede als Vorsitzende der „Association for the Advancement of Women“ plädierte Maria Mitchell 1875 wütend für ein Recht auf höhere Bildung für Frauen. Sie war überzeugt davon, dass Frauen detailgenauer, scharfsinniger, weniger egoistisch und daher kooperationsfähiger seien als Männer – Eigenschaften also, die für das wissenschaftliche Arbeiten elementar seien. Mitchell konnte sich dabei auf einen enormen Erfahrungsschatz berufen – schließlich hatte die erste Astronomieprofessorin der Welt die Reputation der amerikanischen Wissenschaften mit einer sensationellen Entdeckung auf ein ganz neues Niveau gehoben. Und trotzdem musste sie miterleben, wie die Freiheiten, die US-amerikanische Frauen in der Astronomie noch einige Jahrzehnte zuvor genossen hatten, mit wachsender Bedeutung des Feldes weniger wurden.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten Naturwissenschaften in den Vereinigten Staaten als beliebte Nebenbeschäftigung für Frauen. Denn Männer betrachteten sie als unpolitisches Feld und damit weniger gesellschaftlich relevant – im Gegensatz etwa zu den Geschichtswissenschaften oder der Rechtswissenschaft. Für Frauen bedeutete das weitgehende Freiheiten in diesem Bereich. Mädchen wurden dazu ermutigt, sich mit Forschung zu beschäftigen. So auch mit der Astronomie.
Auf Nantucket, wo Maria Mitchell 1818 geboren wurde und aufwuchs, spielten die Sterne und selbstbewusste Frauen schon aus ganz praktischen Gründen eine große Rolle. Die kleine Insel im äußersten Nordosten der Vereinigten Staaten galt damals als Zentrum des Walfangs. Von hier aus starteten Schiffe in alle Richtungen – und wer sich während monatelanger Reisen auf dem Meer orientieren wollte, brauchte gute Kenntnisse des Nachthimmels. Während die Männer auf See waren, hielten die Frauen das Inselleben aufrecht: Sie führten nicht nur Haushalte, sondern auch Geschäfte und öffentliche Einrichtungen. Ein Großteil der Inselbevölkerung – auch die Mitchells – gehörte der christlichen Glaubensgemeinschaft der Quäker an, bei der die Gleichstellung von Mann und Frau Tradition hatte.
So erhielt Maria den gleichen Unterricht wie ihre Brüder – auch weil die Eltern großen Wert auf Bildung legten. Ihre Mutter Lydia war eine begeisterte Leserin, ihr Vater William ein Mann der Wissenschaft, der gern auf einer eigens gezimmerten Beobachtungsplattform auf dem Dach des Familienhauses stand und die Sterne mit dem eigenen Teleskop beobachtete. Seiner Leidenschaft für die Astronomie konnte sich die Familie nicht entziehen: „Wenn jemand ein Kind der Familie gefragt hätte, wer der größte Mann sei, der jemals gelebt hat, dann wäre die Antwort vermutlich ,Herschel!‘ gewesen“, schrieb Phebe Mitchell, eines von zehn Kindern im Haus. Besonders die ältere Schwester Maria begeisterte sich für das Hobby des Vaters. Gemeinsam beobachteten sie den Himmel, beispielsweise 1831 eine totale Sonnenfinsternis. Die Astronomie bereitete ihnen Freude, hatte aber auch eine praktische Seite: William Mitchell kalibrierte mithilfe eines Sextanten die Chronometer, also die mechanischen Uhren, der Walfangschiffe. Bereits mit 14 Jahren übernahm seine Tochter diese Aufgabe ebenfalls.
„Lady Astronomer“
Vier Jahre später leitete sie bereits die örtliche Bibliothek, das Atheneum. Der Job öffnete der engagierten jungen Frau einen regelmäßigen Zugang zur Welt- und Fachliteratur – auch zu solcher, die die Quäker eigentlich nicht in ihren Regalen sehen wollten, da sie für Kunst und Romantik nichts übrig hatten.
Wenn sie nicht das Atheneum verwaltete, verbrachte sie jede freie Minute auf dem Dach ihres Elternhauses und durchsuchte den Himmel. So auch am Abend des 1. Oktober 1847: Während die Gäste einer Party unter ihr fröhlich plauderten, stand Maria Mitchell am Teleskop und blickte in die sternenklare Nacht. Gegen 22.30 Uhr stürmte die 29-Jährige in die Stube und unterrichtete ihren Vater, dass sie wahrscheinlich einen Kometen entdeckt habe. Als die begeisterten Gäste ihr zu „ihrem Kometen“ gratulierten, antwortete Maria nur: „Er war da. Wie hätte ich ihn nicht sehen können? Das war kein Verdienst.“
Das sah die weltweite Öffentlichkeit anders. Maria Mitchell war der erste Mensch in Amerika und weltweit wahrscheinlich erst die dritte Frau, der solch eine Entdeckung gelungen war. Mit dem Fund war eine besonders wertvolle Ehrung verbunden: Der König von Dänemark hatte eine Goldmedaille für die Entdeckung eines teleskopischen Kometen ausgelobt. Die Presse überschlug sich mit Berichten über „Lady Astronomer“. Im Sommer belagerten Heerscharen von Touristinnen und Touristen ihr Wohnhaus. Berühmte Denker der Zeit wie Ralph Waldo Emerson oder Herman Melville suchten ihre Nähe und reisten nach Nantucket – einem neuen Wissenschaftszentrum des Landes.
Endlich hatte die US-amerikanische Wissenschaft eine Heldenerzählung, mit der sie sich international profilieren und den Vorsprung der Europäer verringern konnte. Denn die USA hatten einen Trend verpasst, der die Forschung in Europa längst prägte: Naturwissenschaften gewannen an Bedeutung und wurden zunehmend institutionalisiert. Einrichtungen wie die britische Royal Society, das Institut de France oder die Preußische Akademie der Wissenschaften hatten sich als äußerst schlagkräftig erwiesen und Spitzenforschung in Europa vorangetrieben. Die Astronomie in Nordamerika hingegen steckte noch nahezu in den Kinderschuhen – das Harvard-Observatorium beispielsweise war erst 1839 gegründet worden. Ihre Vertreter versprachen sich von der Entdeckung des Kometen einen immensen Entwicklungsschub.
Dass dafür eine junge Frau verantwortlich war, bot der Presse eine gute Geschichte und der Frauenbewegung eine neue Galionsfigur. Während der Seneca Falls Convention im Juli 1848 – einer Versammlung, bei der amerikanische Frauen erstmals ausschließlich über Frauenrechte debattierten – wurde Maria Mitchell als Vorreiterin gefeiert und dabei in eine Reihe gestellt mit Caroline Herschel und der englischen Gelehrten Mary Somerville. Ein Netzwerk von Frauenrechtlerinnen finanzierte der Astronomin einige Jahre später ein eigenes Teleskop.
Für Mitchell zahlte sich die neue Prominenz aus: Zwar blieb sie dem Atheneum treu, doch nebenbei gehörte sie ab 1849 zum Team, dass für den „Nautical Almanac“ Positionsveränderungen verschiedener Himmelskörper – in ihrem Fall vorrangig der Venus – berechnete, damit sich Navigatoren auf See daran orientieren konnten. Damit war sie die erste Frau in Amerika, die mit der Astronomie Geld verdiente – fünfmal so viel wie ihr der Job in der Bibliothek einbrachte. Die neue Aufgabe ging wiederum mit viel wissenschaftlichem Ansehen einher: Als erste Frau überhaupt wurde sie in die „American Academy of Arts and Sciences“ aufgenommen, ein Jahr später in die „Association for the Advancement of Science".
Immer häufiger verließ sie nun die Insel, um Observatorien und Workshops zu besuchen und sich mit Kollegen auszutauschen. Ende 1857 trat sie eine Reise nach Europa an, die ihr Leben tiefgreifend verändern sollte. Zum ersten Mal beschäftigte sie sich monatelang nur mit Wissenschaft. Sie wandelte auf den Spuren ihrer Idole Isaac Newton und Caroline Herschel und traf angesehene Kollegen wie Carolines Neffen John Herschel oder Alexander von Humboldt, mit denen sie sich auf Augenhöhe austauschte – meistens jedenfalls. Denn, auch das merkte sie zunehmend: Eine Frau in der Welt der Wissenschaft zu sein, bedeutete, dass nicht jeder der etablierten Kollegen ihr den Respekt entgegenbrachte, den sie verdiente. In Rom erkämpfte sie sich – als erste Frau überhaupt – Zugang zum Observatorium des Vatikans; in Florenz traf sie zum ersten Mal eine Kollegin: Mary Somerville, das einzige weibliche Mitglied der Royal Society. Nach der Rückkehr im Sommer 1858 stand für die 40-jährige Bibliothekarin fest: Sie wollte ein Leben ganz als Wissenschaftlerin – auch wenn sie dafür die geschützte Umgebung ihrer Insel verlassen musste.
Lange Nächte am College
Doch es dauerte noch bis zum Tod ihrer Mutter, die sie jahrelang gepflegt hatte, bis sie im Sommer 1861 gemeinsam mit ihrem Vater Nantucket verließ. Zunächst zogen sie in die nördlich von Boston gelegene Kleinstadt Lynn. Zwar hatte sie selbst noch nicht studieren dürfen, doch nun eröffneten in den USA immer häufiger Colleges für Frauen. Eines davon ermöglichte ihr trotzdem eine universitäre Karriere: 1865 nahm das Vassar College in Poughkeepsie seinen Lehrbetrieb auf – und die erste und prominenteste Person, die in die Fakultät berufen wurde, war Maria Mitchell als Professorin für Astronomie und Leiterin des dazugehörigen Observatoriums. Die Gründer wollten das College von Anfang an zu einem astronomischen Zentrum machen und engagierte dafür nicht nur eine der profiliertesten Personen auf diesem Gebiet, sondern statten die Sternwarte mit dem drittgrößten Teleskop des Landes aus.
Doch die erste Astronomieprofessorin der Welt blieb bescheiden. Die Gründer hatten ihr ein jährliches Salär von 1500 Dollar angeboten – Mitchell jedoch hatte abgelehnt, da sie bezweifelte, so viel Geld wert zu sein. Schließlich hatte man sich auf 800 Dollar plus Unterkunft und Verpflegung für sie und ihren Vater geeinigt. Doch als sie später erfuhr, dass ihre männlichen Kollegen 2000 Dollar verdienten, war sie sehr verärgert. Die versprochene Unterkunft entpuppte sich zudem als große Enttäuschung: Für William hatte man ein Schlafzimmer im Keller des noch nicht fertiggestellten Observatoriums bereitgestellt; sie selbst schlief zehn Jahre lang auf einem Feldbett in einem Raum, den sie zugleich als Büro und Seminarraum nutzen musste.
Immerhin war sie mit dem eigenen Gebäude deutlich unabhängiger auf dem Campus als ihre Kollegen – und ignorierte gern die Hausregeln. Während viel zu langer Nächte beobachtete sie gemeinsam mit ihren Schülerinnen Meteoritenschauer, forderte sie auf, sich eigene Sternbilder auszudenken, um sich besser orientieren zu können, und weckte so die Begeisterung für die Astronomie. Sie erklärte ihnen die Instrumente in der Sternwarte und erlaubte ihnen, diese jederzeit zu benutzen. Beschwerte sich ein Vater über die zu lange Nachtarbeit seiner Tochter, dann antwortete sie: „Meine Mutter hatte mehr Nachtarbeit als jeder Astronom.“
Während der Seminare war die Professorin streng, erwartete vor allem mathematische Höchstleistungen. „Eine mathematische Formel ist eine Hymne des Universums“, pflegte sie zu sagen. Ihre Kurse waren anspruchsvoller als die in Harvard oder Yale. Doch im Gegensatz zu vielen ihrer männlichen Kollegen verzichtete die Professorin auf langes Dozieren, suchte den Austausch mit den Schülerinnen. „Es hat einen Hauch von Absurdität, wenn ein Lehrer einem noch sehr jungen Menschen eine Frage stellt, deren Antwort er bereits kennt“, erklärte sie in einer Rede ihre Abneigung gegenüber Frontalunterricht. Sie weigerte sich auch, Noten zu verteilen oder Anwesenheitslisten zu führen: „Ich kann den Intellekt nicht in Zahlen ausdrücken“. Stattdessen wählte sie eine ausgefallene Art, ihre Schützlinge zu bewerten: Zum Ende des Studienjahres erhielt jede Schülerin im festlichen Rahmen ein eigenes Gedicht, in dem die Lehrerin ihre jeweiligen Qualitäten lyrisch hervorhob. Durch diese Methoden formte sie eine unzertrennliche Gemeinschaft, die auch für sie selbst zu einem sozialen Anker wurde.
Gemeinsam mit ihren Schülerinnen publizierte Mitchell zahlreiche wichtige Beiträge in Fachmagazinen, die sonst nur Männern vorbehalten waren. Sie widmete sich beispielsweise der neuen Methode der Astrofotografie und entwickelte einen eigenen Apparat, mit dem sie als erste Forscherin eine Serie täglicher Aufnahmen der Sonne erstellte. Dabei erkannte sie, dass Sonnenflecken nicht etwa Wolken sind, sondern wirbelnde Hohlräume.
Kampf für ein Recht auf Bildung
Mitchells Ziel war, ihre Schülerinnen zur Selbstständigkeit zu erziehen, eigene Arbeitsweisen zu entwickeln und einen Beruf auszuüben. „Ich kann nicht erwarten, dass ihr zu Astronominnen werdet, aber ich erwarte, dass ihr euch bemüht, euren Geist durch eine intelligente Denkweise anzuspornen“, gab sie ihnen mit. Gleichzeitig setzte sie ihre Position und ihre Prominenz dafür ein, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen für sie zu verbessern. Sieben Jahre nach ihrer Berufung erstritt sie eine Angleichung des Gehalts für sich und eine Kollegin. Ihr sei bewusst, dass sie für alle Frauen kämpfe, denn es sei mehr die allgemeine als diese spezielle Ungerechtigkeit, die sie traf, schrieb Mitchell in einem Brief an die Universitätsleitung – und drohte mit ihrer Kündigung. Zudem lud sie immer häufiger bekannte Frauenrechtlerinnen ins Observatorium ein, um mit ihren Studentinnen über politische Themen zu diskutieren, und hielt selbst Vorträge zur Gleichberechtigung.
Und das war dringend notwendig, denn die Lage für Frauen in der Astronomie wurde in diesen Jahrzehnten zunehmend schlechter. Da die Naturwissenschaften immer relevanter und durch Erkenntnisse wie etwa der Evolutionstheorie politischer wurden, betrachteten Männer Frauen zunehmend als Konkurrenz und verdrängten sie auf die Position von Hilfsarbeiterinnen. „In den halb belichteten und völlig unbelüfteten Räumen arbeiten die Frauen geduldig an den Formeln und türmen die logarithmischen Zahlen auf; unter freiem Himmel, unter dem blauen Himmel oder dem Sternenhimmel, machen die Jungen und Männer die Messungen… Es scheint eine Rückwärtsbewegung stattgefunden zu haben“, schrieb Maria Mitchell.
1873 erreichten die Diskussionen darüber, ob es gut wäre, Frauen höhere Bildung zukommen zu lassen, einen neuen Tiefpunkt: Der Physiologe Edward Clarke von der Harvard Medical School veröffentlichte ein – in seriösen Kreisen durchaus vieldiskutiertes – Buch, in dem er behauptete, wissenschaftliche Betätigung in jungen Jahren könne dazu führen, dass die Sexualorgane von Frauen verkümmerten. Kurz gesagt: Wenn sich Frauen bildeten, verlören sie ihre Weiblichkeit.
Alarmiert von dieser Atmosphäre gründete Maria Mitchell im selben Jahr gemeinsam mit Kolleginnen die Association for the Advancement of Women. Das Netzwerk sollte das Recht von Frauen auf höhere Bildung unterstreichen und durchsetzen. Denn häufig erhielten Mädchen nur eine einfache Schulbildung, konnten nur an den wenigen Frauencolleges studieren und auch der Arbeitsmarkt für Wissenschaftlerinnen war sehr eingeschränkt.
Maria Mitchell selbst sollte die Rückschritte nicht mehr aufhalten. Sie verabschiedete sich Anfang 1888 erschöpft in den Ruhestand und starb anderthalb Jahre später – am 28. Juni 1889 in Lynn. Obwohl sie als erste Astronomieprofessorin Barrieren eingerissen und in dieser Position einige herausragende Wissenschaftlerinnen ausgebildet hatte, blieben Frauen auf Lehrstühlen renommierter amerikanischer Universitäten lange Zeit eine Seltenheit – vor allem in den Naturwissenschaften. Die Universität Harvard berief erst rund 70 Jahre später eine erste Professorin für Astronomie.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/im-portraet/maria-mitchell-aktivistin-auf-dem-lehrstuhl/