Im hintersten Winkel der Welt

Sebastian Hollstein

Gezeichnetes Porträt des Nikolaus Kopernikus

Britta von Heintze/Welt der Physik

Als einer der ersten rückte Nikolaus Kopernikus die Sonne ins Zentrum der Welt und versetzte die Erde in Bewegung. Damit revolutionierte er das Weltbild des Menschen – auch wenn es noch einige Zeit länger dauern sollte, bis sich diese Erkenntnis als Fakt durchsetzte. Vom Rebellen, der seine neue Lehre begeistert vom Rednerpult aus verbreitete, kann nicht die Rede sein. Vielmehr war er ein vorsichtiger Einzelgänger, der sich der Wissenschaft in seiner Freizeit widmete.

Johannes Kepler diente als Hofmathematiker dem Kaiser. Galileo Galilei unterrichtete als Universalgelehrter an verschiedenen italienischen Universitäten. Isaac Newton verdiente sein Geld lange Zeit an der Universität Cambridge. Mitten in den Zentren Europas prägten die Geistesgrößen der frühen Neuzeit als professionelle Wissenschaftler unser Bild von der Welt und vom Universum. Nicht jedoch Nikolaus Kopernikus: Ausgerechnet derjenige, der den größten Umbruch unseres Weltbilds der Astronomiegeschichte anstieß, betrieb die Wissenschaft nur als Freizeitbeschäftigung. Im „hintersten Winkel der Welt“, wie er selbst schrieb, entwarf der Kirchenbeamte weltverändernde Ideen – machte sie jedoch zeitlebens nur einem eingeschränkten Kreis zugänglich.

In die Welt und zurück

Der spätere Gelehrte wurde am 19. Februar 1473 als Niklas Koppernigk in ein wohlhabendes Elternhaus in der Hansestadt Thorn – heute das polnische Toruń – hineingeboren. Unter der Herrschaft des Deutschen Ordens gegründet, gehörte die Stadt damals zum Preußischen Bund, einem Zusammenschluss verschiedener Städte unter der Schutzherrschaft des Königs von Polen. Kopernikus stammte aus einer deutschen Familie, hatte aber auch polnische Verwandte. Seine Schriften verfasste er in seiner Muttersprache Deutsch sowie in Latein.

Die nötige Bildung verdankte der spätere Astronom der Kirche. Nachdem 1483 sein Vater – ein Kupferhändler – starb, übernahm sein Onkel mütterlicherseits den Vormund über Nikolaus und seine drei Geschwister. Lucas Watzenrode, zunächst Domherr in Frauenburg (heute das polnische Frombork), später Bischof der Region Ermland, legte großen Wert auf Bildung. Er schickte Nikolaus und seinen Bruder Andreas, die bereits auf der Pfarrschule Mathematik und Latein gelernt hatten, zunächst auf eine weiterführende Schule und schließlich 1491 an die Universität Krakau. Dort beschäftigte Nikolaus sich mit Astronomie, Astrologie, Geographie und Mathematik. Dazu belegte er Kurse in den freien Künsten, die unter anderem grammatikalische, philosophische und literarische Kenntnisse umfassten. Einen akademischen Abschluss machte er nicht – was zunächst auch nicht notwendig war.

Denn durch den Einfluss ihres Onkels folgten ihm Nikolaus und sein Bruder als Domherren nach Frauenburg. Mit dem Posten als kirchliche Beamte gingen ein gutes Auskommen und eine nahezu priesterliche Lebensführung einher. Um sich auf die zukünftigen kirchlichen und weltlichen Aufgaben optimal vorbereiten zu können, setzten Nikolaus und Andreas ihre Studien in Italien fort. Gemeinsam schrieben sie sich an der Juristischen Fakultät der Universität Bologna ein, besuchten aber auch Veranstaltungen anderer Disziplinen. Nikolaus vertiefte sein astronomisches Interesse, indem er Vorlesungen des Professors Domenico Maria da Novara besuchte und ihm sogar bei astronomischen Beobachtungen assistierte. Eigenes Beobachten war essenziell für den Erkenntnisgewinn, so die einhellige neue Maxime der Renaissance. Und die nährte durchaus auch Zweifel am damals etablierten Weltbild – nicht nur bei Kopernikus.

Grafik des geozentrischen Weltbilds: In der Mitte befindet sich die Erde, darum herum in konzentrischen Kreisen angeordnet die Sonne, der Mond, die Planeten und der Sternhimmel. Eingefasst ist das Schema von verschiedenen Menschen, deren Köpfe auf das Bild ausgerichtet sind; darüber thront ein bärtiger Mann.

Das geozentrische Weltbild

Im Zentrum der Welt, das war rund anderthalb Jahrtausende lang unumstößlich, stand die Erde – schließlich bewegten sich ja von ihr aus gesehen alle Himmelskörper um sie herum: Die Sonne geht auf und unter, die Planeten kreisen am Himmel. Die Vorstellung der Gelehrten ging auf den Astronomen Claudius Ptolemäus zurück, der das Weltbild im 2. Jahrhundert nach Christus zusammengefasst hatte. Ihm zufolge umgibt die Erde ein System aus konzentrisch angeordneten Kugelschalen, den sogenannten Sphären, die jeweils einem Himmelskörper zugeordnet sind: dem Mond, der Sonne, den damals bekannten Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, sowie dem kompletten Sternhimmel. In diesen Sphären bewegten sich die entsprechenden Himmelskörper auf perfekten Kreisbahnen um die Erde. Um zu erklären, warum sich bestimmte Planeten in Bezug auf die Fixsterne unterschiedlich schnell – und manche sogar scheinbar rückwärts – bewegten, führte Ptolemäus eine zusätzliche Bewegung ein: Die Himmelskörper zogen zusätzlich auf weiteren Kreisbahnen – sogenannten Epizykeln – um die eigene Kreisbahn.

Ein Mann der Verwaltung

Es war ein kompliziertes System, das zu Kopernikus' Zeit längst nicht mehr nur Befürworter hatte. Vor allem ungenaue Berechnungen zukünftiger Himmelskonstellationen riefen immer wieder Zweifel am ptolemäischen Weltbild hervor. Da Astronomie und Astrologie eng mit anderen Disziplinen verwoben waren, hatten Planetenkonstellationen angeblich immense Bedeutung – um etwa Krankheiten zu heilen, so die damalige Lehrmeinung, war nicht nur die Art der Behandlung wichtig, sondern ebenso ihr Zeitpunkt. Das erfuhr auch Kopernikus, als er ab Herbst 1501 Medizin in Padua studierte.

Luftaufnahme einer rötlichen Kirche

Frauenburger Dom

Seinen Abschluss erlangte er schließlich 1503 – in Kirchenrecht. Dann kehrte er zurück in die Heimat, die er nie mehr verlassen sollte. Zunächst trat er als Leibarzt und Sekretär in den Dienst seines Onkels. Als Fürstbischof hatte Watzenrode auch weltliche Macht über das Ermland inne, und Kopernikus übernahm Verwaltungsaufgaben, begleitete seinen Ziehvater zu wichtigen Versammlungen und behandelte ihn bei Erkrankungen. Doch schon 1510 gab er seine Anstellung auf, um sich ausschließlich seinen Aufgaben als einer von 16 Domherren von Frauenburg, das damals rund 1000 Einwohner hatte, zu widmen. Großes kirchliches Interesse oder gar religiösen Eifer zeigte Kopernikus zeitlebens nie. Umso engagierter konzentrierte er sich auf eine Fülle weltlicher Herausforderungen. Er übernahm etwa eine Zeit lang die Buchführung des Kapitels, verwaltete Ländereien und beaufsichtigte die Arbeiten der angeschlossenen Mühle und Brauerei. Dienstlich angefertigte Dokumente zeigen Kopernikus als einen umsichtigen und pragmatischen Menschen; um amtliche Probleme zu lösen, verfasste er wichtige wirtschaftstheoretische Schriften. Als zu Beginn der 1520er Jahre der Deutsche Orden Frauenburg verwüstete und die Domherren für einige Monate aus der Stadt fliehen mussten, organisierte Kopernikus ihre Verteidigung und war als Diplomat an der Aushandlung eines Waffenstillstands beteiligt.

Über Kopernikus' Privatleben ist derweil so gut wie nichts bekannt. Offiziell mussten er und seine Kollegen zölibatär leben – hinter verschlossenen Türen allerdings pflegten sie häufig Beziehungen mit Haushälterinnen. Auch Kopernikus scheint sich später auf eine solche Verbindung eingelassen zu haben: mit seiner geschiedenen Nichte Anna Schilling aus Danzig (pol. Gdansk), die in den 1530er Jahren in seine Dienste trat. Der Bischof des Ermlandes ermahnte Kopernikus mehrfach ausdrücklich, die Beziehung zu beenden. Anna Schilling verließ darauf 1539 Frauenburg und kehrte in ihre Heimatstadt zurück.

Kleiner Kommentar – große Erkenntnis

Vermutlich hatte Kopernikus die Anstellung bei seinem Onkel nicht nur aufgekündigt, um sein Amt als Domherr vollständig auszufüllen, sondern auch, um sich nebenbei seiner großen Leidenschaft zu widmen: der Astronomie. Auf einer eigens installierten hölzernen Plattform beobachtete er mit verschiedenen Instrumenten zur Positionsbestimmung von Sternen – das Teleskop war noch nicht erfunden – den Nachthimmel. Und dabei wuchsen die Zweifel, ob das Weltbild, so wie es gemeinhin gelehrt wurde, wirklich die Realität abbildete. Vor allem die scheinbar rückwärtige Bewegung mancher Planeten, die sich durch verworrene Epizykel nur teilweise erklären ließ, sowie die Veränderung ihrer Helligkeit machten ihm zu schaffen.

Grafik eines Mannes, der mit einem astronomischen Instrument in den Nachthimmel schaut.

Kopernikus beobachtet eine Mondfinsternis

Deshalb verfasste er um 1510 eine erste Schrift mit Hypothesen, nach denen sich diese Probleme besser lösen ließen – und die gleichzeitig ein neues revolutionäres Weltbild programmatisch skizzierten: „Der Mittelpunkt der Erde ist nicht die Weltmitte, sondern nur der von Schwere und Mondkreis“ und „Alle Kreise laufen um die Sonne, als stünde sie in der Mitte von allen, und deshalb liegt der Weltmittelpunkt nahe bei der Sonne“, sind in diesem „Commentariolus“ ebenso zu lesen wie „Alles, was an Bewegung am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen. Die Erde also dreht sich mit den ihr anliegenden Elementen in täglicher Bewegung einmal ganz um ihre unveränderlichen Pole.“

Doch Kopernikus sollte diesen Text nie publizieren – er schickte ihn lediglich an einige Fachkollegen. Lange Zeit war die Handschrift nur bekannt, weil der dänische Astronom Tycho Brahe sie später in einem seiner Werke erwähnt hatte; erst 1877 entdeckte ein Forscher ein Exemplar in der Wiener Hofbibliothek. Doch war es nicht etwa die Angst davor, mit der Kirche in Konflikt zu geraten und möglicherweise sogar als Ketzer verurteilt zu werden, die den Astronomen von einer Veröffentlichung abhielt. Vielmehr befürchtete er, dass die Gelehrten sein neues heliozentrisches Weltbild ablehnten. Ob seine Schlussfolgerungen tatsächlich ein negatives Echo auslösten oder ob er die Beweisführung für seine Thesen zuerst äußerst genau ausarbeiten wollte, ist nicht ganz klar. Was auch immer ihn dazu bewog: Kopernikus ließ dem „kleinen Kommentar“ rund 30 Jahre keine weitere astronomische Schrift folgen.

Trotzdem hatte er sich inzwischen den Ruf eines ernstzunehmenden Astronomen erarbeitet. Bereits 1514 wurde er in eine Kommission eingeladen, um im päpstlichen Auftrag Ideen für eine Kalenderreform zu entwickeln. Doch abgesehen davon unterrichtete der Domherr an keiner Universität, hielt keine Vorträge und tauschte sich kaum direkt mit Kollegen aus – höchstens in Briefen. Fachgespräche pflegte er wahrscheinlich vor allem im kleinen Kreis mit interessierten Laien, etwa mit seinem Domherrenkollegen und wohl besten Freund Tiedemann Giese. Der Freund interessierte sich ebenfalls für Astronomie und motivierte Kopernikus dazu, seine Ideen schließlich doch in einer umfassenden Schrift zu veröffentlichen.

Beginn der Kopernikanischen Wende

Vermutlich arbeitete Kopernikus bereits seit dem „Commentariolus“ an dem großen Werk, in dem er seine Hypothesen belegen wollte. Doch erst mit der Unterstützung seines einzigen Schülers Georg Joachim Rheticus, ein 25-jähriger Wittenberger Mathematikprofessor, wagte sich Kopernikus daran, die Schrift „De revolutionibus orbium coelestium“ („Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären“) für die Veröffentlichung vorzubereiten. Rheticus organisierte den Druck in Nürnberg, sodass das Werk 1543 erscheinen konnte.

Foto einer Buchseite mit dem heliozentrischen Weltbild: Die Sonne befindet sich in der Mitte, darum herum konzentrische Kreise, die beschriftet sind mit Sonne, Mond und den Planetennamen

Das heliozentrische Weltbild

Darin beschrieb Kopernikus sein heliozentrisches Weltbild näher und leitete daraus die Bewegungen der Himmelskörper ab. Die Ideen von Ptolemäus sind darin weiterhin zentral: Auch Kopernikus führte acht Sphären inklusive Himmelskörper und Sternhimmel an, auch er bestand auf perfekten Kreisbahnen, auf denen sich die Planeten bewegen – nur eben um die Sonne. Es gelang Kopernikus auch, die Planeten in der richtigen Reihenfolge anzuordnen – vorher variierten die Anordnungen. Ein Großteil des Buches besteht schließlich aus komplizierten Berechnungen zu den Positionen der einzelnen Himmelskörper, die sich aus dem neuen Zentrum ergeben.

Das Werk widmete er Papst Paul III., der als Förderer der Wissenschaft galt – ein Schachzug, mit dem Kopernikus Schutz vor möglichen Anfeindungen seitens der Kirche suchte. Überhaupt stieß er mit seinen neuen Theorien bei der Kurie durchaus auf offene Ohren – auch Pauls Vorgänger Clemens VII. hatte sich einige Jahre zuvor an den neuen Ideen interessiert gezeigt, die seit der Veröffentlichung des „Commentariolus“ kursierten. Zwar diskutierten Kirchenvertreter nach dem Erscheinen von „De revolutionibus orbium coelestium“ intern den Umgang damit: Die einen lehnten das heliozentrische Weltbild kategorisch ab, da es den Aussagen der Bibel widersprach. Andere versuchten, die bewegte Erde mit dem christlichen Weltbild in Einklang zu bringen.

Schon bald griffen andere Wissenschaftler Kopernikus' Ideen auf und dachten sie weiter: Johannes Kepler erkannte, dass sich die Planeten nicht auf perfekten Kreisbahnen sondern Ellipsen um die Sonne bewegten. Galileo Galilei bestätigte durch verschiedene Beobachtungen mit dem Teleskop die Ideen seiner Vorgänger und geriet dabei in offenen Konflikt mit der Kirche – infolge seines Wirkens wurde auch die Verbreitung von „De revolutionibus orbium coelestium“ offiziell verboten. Isaac Newton schließlich erklärte rund 140 Jahre nach Kopernikus durch die Gravitation, warum Dinge, die man in die Luft warf, am selben Ort wieder herunterfielen – obwohl die Erde sich bewegt.

Von den Auswirkungen dieser Kopernikanischen Wende bekam ihr Namensgeber allerdings nichts mehr mit. Er hatte bereits Ende 1542 einen Schlaganfall erlitten und starb am 24. Mai des Folgejahres kurz nach Erscheinen seines großen Werks.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/im-portraet/nikolaus-kopernikus-im-hintersten-winkel-der-welt/