Jahresrückblick 2021
In diesem Jahr unterstützten Physiker die Entwicklung von Impfstoffen gegen Coronaviren und analysierten die Ursachen und das Ausmaß des Klimawandels. Doch auch die kleinsten Bausteine der Materie und gigantische Strukturen des Weltalls wurden genau untersucht. Hier blicken wir auf diese und weitere Highlights aus dem Jahr 2021 zurück.
Impfstoffe, Aerosole und Kontaktnachverfolgung
Seit nunmehr zwei Jahren prägt die COVID-19-Pandemie maßgeblich unseren Alltag. Bereits in unserem letzten Jahresrückblick haben wir darüber berichtet, wie Forscher etwa mithilfe von Röntgenlasern oder Neutronenstrahlen das Coronavirus entschlüsselt haben. Und auch in diesem Jahr leisteten Methoden aus der Physik wichtige Beiträge zur Bekämpfung der Pandemie. So ließen sich beispielsweise erst mithilfe von Röntgenstrahlen die neuartigen mRNA-Impfstoffe entwickeln, wie Martin Schroer vom Europäischen Labor für Molekularbiologie in Hamburg im Interview berichtete. „Die genutzte mRNA ist in diesem Fall der Bauplan für bestimmte Proteinfragmente, aus denen das Virus aufgebaut ist. Wenn man die mRNA in menschliche Zellen bringt, produzieren sie ungefährliche Virusfragmente und lösen damit eine Immunreaktion aus, die dann vor dem ganzen Virus schützt.“
Um die Pandemie weiter einzudämmen, ist es abgesehen von Impfungen wichtig zu verstehen, wie die Viren eigentlich übertragen werden. Dabei spielen Aerosolpartikel, also feinste Schwebeteilchen, die sich über die Luft verbreiten, eine entscheidende Rolle. „Sind die Aerosole erst einmal im Raum und man lüftet nicht, ist die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, auch noch nach Stunden gegeben“, fasste Rainer Koch vom Karlsruher Institut für Technologie das Ergebnis von Experimenten zusammen, in denen er gemeinsam mit seinen Kollegen die Verdunstung von Speicheltropfen untersuchte.
Und sogar komplexe Methoden der Astrophysik nutzten Forscher dieses Jahr, um den Pandemieverlauf zu untersuchen. Normalerweise sucht Tina Pollmann von der Universität Amsterdam nach kosmischen Teilchen. Doch: „Mit Supercomputern und den Algorithmen, die das Verhalten der Teilchen berechnen, nutzten wir bereits die idealen Werkzeuge, um auch die Auswirkung der digitalen Kontaktnachverfolgung auf die Pandemie zu berechnen“, berichtete sie in unserem Interview. Mit aufwendigen statistischen Methoden untersuchten die Forscher den weiteren Verlauf der Pandemie – abhängig davon, wie viele Personen die Corona-Warn-App nutzen. „Anstatt das Verhalten kosmischer Teilchen zu berechnen, simulierten wir also nun, wie eine Corona-Warn-App helfen kann, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen.“
Aufruhr in der Welt der Teilchenphysik
Im April machte ein Experiment am Forschungszentrum Fermilab in den USA viele Schlagzeilen, an dem Wissenschaftler die Eigenschaften von winzigen Teilchen – den sogenannten Myonen – vermessen. Myonen sind Elementarteilchen und deshalb hervorragende Testobjekte für das Standardmodell der Teilchenphysik, das die uns bekannten Bausteine des Universums und ihre Eigenschaften beschreibt. In ihrem Verhalten ähneln Myonen etwa Elektronen, sind allerdings rund zweihundertmal massereicher und zerfallen bereits innerhalb von wenigen Mikrosekunden. Wie Elektronen besitzen auch Myonen einen Eigendrehimpuls oder Spin, der ähnlich wie eine rotierende elektrische Ladung ein Magnetfeld erzeugt. Die Stärke dieses sogenannten magnetischen Moments haben Physiker nun experimentell bestimmt – und dabei einen unerwartet hohen Wert gemessen.
„Das ist ein spannendes Ergebnis. Unter allen Messungen zum Test des Standardmodells ist diese hier diejenige, die am eindeutigsten eine Abweichung von den Vorhersagen des Standardmodells zeigt“, kommentierte Dominik Stöckinger von der Technischen Universität Dresden das Experiment. Eine solche Messung, die sich nicht mit den etablierten Theorien erklären lässt, könnte den Weg zu neuen Theorien jenseits des Standardmodells aufweisen. Die Hoffnung der Forscher ist groß: Möglicherweise lassen sich Antworten auf einige der bislang ungelösten Rätsel der Physik finden. Doch nach wissenschaftlichem Maßstab ist die Abweichung nicht groß genug, um das Ergebnis als eindeutige Entdeckung einzustufen. „Das ist noch ein Stück weit weg und verlangt weitere Messungen“, so Stöckinger.
Auch mit anderen Experimenten, wie etwa dem ATLAS-Experiment am Forschungszentrum CERN, suchen Physiker nach Prozessen, die sich nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik in Einklang bringen lassen. In den 1990er-Jahren beobachteten Physiker dort ein zunächst ungeklärtes Verhalten von Elementarteilchen, das ebenfalls nicht zu den theoretischen Vorhersagen passte. Nun haben Forscher die Messung jedoch mit einer höheren Genauigkeit überprüft – und kamen zu einem anderen Ergebnis. „Höchstwahrscheinlich ist das Ergebnis der damaligen Messung einfach auf eine zufällige, statistische Schwankung in den gemessenen Daten zurückzuführen“, kommentierte Andreas Hoecker vom Forschungszentrum CERN das Ergebnis im Interview. Ob die Messung am Fermilab das gleiche Schicksal ereilen wird, ist bislang unklar. Doch selbst dann geht die Suche nach Abweichungen vom Standardmodell weiter. „Wir wissen nie, wo plötzlich Unstimmigkeiten auftauchen könnten“, so Hoecker.
Klimaforschung und Nobelpreis
Neben der globalen Pandemie beschäftigte dieses Jahr noch ein weiteres Thema die ganze Welt – der Klimawandel. Im August veröffentlichte der Weltklimarat – IPCC – nach sechs Jahren einen weiteren Sachstandsbericht zum aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels. „Die jüngsten Klimaveränderungen sind weitverbreitet, schnell, verstärken sich und sind seit Jahrtausenden beispiellos“, fasste die Klimaforscherin Veronika Eyring vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und der Universität Bremen die Erkenntnisse im Interview zusammen. Die Datenlage lässt keine Zweifel mehr zu: Der Klimawandel ist menschengemacht.
Zwar gibt es auch natürliche Einflüsse auf die globalen Oberflächentemperaturen, wie etwa Sonneneinstrahlung und Vulkanausbrüche. Doch die beobachtete Erwärmung um 1,1 Grad Celsius im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten lässt sich nur mit dem Ausstoß von Treibhausgasen durch den Menschen erklären. Bereits heute erleben wir immer häufiger extreme Wetterereignisse wie Starkregen oder tropische Wirbelstürme, auch Hitzewellen und Dürren treten häufiger auf. Und diese Situation wird sich mit steigenden Temperaturen noch weiter zuspitzen. „Nur eine rasche und schnelle Reduzierung der Treibhausgasemissionen global kann noch deutlich schlimmere Entwicklungen verhindern“ meint Eyring.
Dass Wissenschaftler mögliche Zukunftsszenarien heute so gut einschätzen können, verdanken sie unter anderem zwei Forschern, die in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurden: Bereits in den 1960er-Jahren gelang es dem Meteorologen Syukuro Manabe von der Princeton University, mit vergleichsweise einfachen Klimamodellen erstmals den Einfluss von Kohlstoffdioxidemissionen auf das Klima nachzuweisen. Aufbauend auf den Arbeiten von Manabe zeigte Klaus Hasselmann vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in den 1980er-Jahren, dass die aktuelle Erderwärmung nicht natürlichen Ursprungs ist, sondern menschengemacht. Damit haben die beiden Meteorologen schon vor mehr als einem halben Jahrhundert wichtige Pionierarbeit für die Klimaforschung geleistet und die Klimamodellierung entscheidend vorangetrieben.
Moderne Klimamodelle sind allerdings deutlich komplexer als ihre Vorgänger. „Bis in die 70er- und 80er-Jahre hinein konnten Modelle nur einzelne Komponenten des Erdsystems abbilden, wie beispielsweise die Ozeane“, berichtete Christopher Irrgang vom Helmholtz-Zentrum Potsdam in unserem Interview. Heutzutage versucht man, immer mehr Faktoren wie auch die Atmosphäre, die Kryosphäre, die Vegetation oder die Landmassen miteinander zu verbinden. Dabei könnten in Zukunft auch Methoden der Künstlichen Intelligenz – kurz KI – helfen, um das Erdklima noch besser zu verstehen. „Langzeitphänomene wie das El-Niño-System und der Meeresspiegelanstieg lassen sich beispielsweise nur begrenzt mit heutigen Modellen vorhersagen. Solche Ereignisse und Phänomene hoffen wir zukünftig mit KI besser vorhersagen zu können“, so Irrgang.
Weltraumteleskope und Marsmissionen
Nach langer Verzögerung startete vor einigen Tagen das James-Webb-Weltraumteleskop ins Weltall. „Wenn alles gut geht, werden wir mit Webb die Strahlung der ersten Generation von Sternen sehen können“, berichtete Oliver Krause vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Diese Sterne sind nur wenige Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden und könnten den Astronomen neue Einblicke in eine Zeit geben, in der das Universum noch vollkommen anders aussah als heute. „Damals gab es außer Wasserstoff und Helium keine anderen Elemente, aus denen Sterne hätten entstehen können.“ Doch Astronomen wollen mit dem Weltraumteleskop nicht nur einen Blick ins frühe Universum werfen, sondern erhoffen sich auch Aufnahmen von Exoplaneten – womöglich sogar von erdähnlichen Planeten. „Die Instrumente des Webb erlauben es, Rückschlüsse auf die molekulare Zusammensetzung der Planetenatmosphäre und physikalische Bedingungen zu ziehen“, erklärte Krause.
Und noch eine weitere Mission startete dieses Jahr – im Vergleich zum James-Webb-Weltraumteleskop allerdings mit einem festen Ziel: Der Rover Perseverance landete im Februar auf der nördlichen Marshalbkugel und soll dort das Marsgestein und das Klima untersuchen. Damit verstärkt er den Rover Curiosity, der sich bereits seit dem Jahr 2012 auf dem Planeten bewegt und nach wie vor neue Erkenntnisse liefert. Aber auch stationäre Sonden wie die US-amerikanische Raumsonde InSight tragen zu unserem Verständnis des Roten Planeten bei. Sowohl die bestehenden als auch die neu gestarteten Missionen versprechen, in nächster Zeit zahlreiche spannende Erkenntnisse zu liefern. Wir dürfen also gespannt sein, welche Highlights es in die kommenden Jahresrückblicke schaffen werden.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/jahresrueckblicke/jahresrueckblick-2021/