Jahresrückblick 2023

Wiebke Schuppe

Mehrere Leuchtende Punkte mit farbigen verwaschenen Umrandungen auf dunklem Hintergrund

NAOC

Im Jahr 2023 stand die Erforschung des Alls gleich mehrfach im Fokus der Öffentlichkeit – zahlreiche Missionen starteten, das James-Webb-Teleskop brachte neue Erkenntnisse und Forschende fanden erste Anzeichen für langwellige Gravitationswellen. Doch auch auf kleinsten Skalen ist viel passiert: Physik- und Chemienobelpreis widmeten sich kürzesten Lichtblitzen und kleinsten Strukturen, und neue Daten zum Myon werfen Fragen auf.

Neue Missionen starten ins All

Im Frühjahr fiel der Startschuss für JUICE: Am 14. April machte sich die Raumsonde Jupiter Icy Moons Explorer auf den Weg zum größten Planeten unseres Sonnensystems. Wie der Name verrät, soll die Mission neue Erkenntnisse über den Gasplaneten Jupiter und seine Eismonde liefern. „Die Eismonde gelten als mögliche Kandidaten für die Entstehung von Leben, da sie unter ihrer eiskalten Oberfläche unterirdische Ozeane aufweisen könnten“, erzählte Christian Chlebek vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt im Interview. Doch bis absehbar ist, ob diese Theorie stimmt, müssen sich die Forschenden noch mindestens acht Jahre gedulden – denn erst dann wird die Sonde Jupiter und seine Monde erreichen.

Zahllose helle verschwommene Flecken vor schwarzem Hintergrund.

Aufnahme des Perseus-Clusters mit Euclid

Anders die Euclid-Mission: Zwar ist sie erst kurz nach JUICE am 1. Juli gestartet, doch sie hat ihr – zugegebenermaßen deutlich näheres – Ziel bereits erreicht: den 1,5 Millionen Kilometer von der Erdbahn entfernten Lagrange-Punkt L2. An diesem Punkt gleichen sich die Gravitationskräfte von Erde und Sonne so aus, dass das Teleskop zusammen mit der Erde um die Sonne kreist. Von dort sendete es am 7. November seine ersten Bilder. Gespannt warten die Forschenden nun auf ausführlichere Daten. Denn das Teleskop soll eine neue Weltraumkarte erstellen, mit deren Hilfe Forschende der Dunklen Energie auf die Spur kommen wollen. Diese soll dafür verantwortlich sein, dass das Weltall immer schneller expandiert. Aus der Form und Verteilung der Galaxien im Universum hoffen die Forschenden, in Zukunft Rückschlüsse auf diese Expansion zu ziehen.

Hin- und Rückflüge zu Asteroiden geglückt

Eine weitere Mission namens OSIRIS-REx ist sogar schon zurückgekehrt: Die gleichnamige Raumsonde machte nicht nur zahlreiche Aufnahmen des erdnahen Asteroiden Bennu, sondern sammelte in einer Kapsel rund 250 Gramm seines Gesteins ein. Diese warf sie am 24. September im Vorbeiflug auf der Erde ab. Wie erwartet fanden die Forschenden im Gestein des Asteroiden reichlich Kohlenstoff und Wasser. Dabei hatten sie die Kapsel noch nicht einmal geöffnet – das untersuchte Material stammte nicht aus dem Inneren des Probenbehälters, sondern von Brocken, die sich in den Zwischenräumen der ungeöffneten Kapsel verfangen haben. Somit sind die eigentlichen Untersuchungen noch ausstehend.

Menschen in blauen Schutzanzügen stehen um einen Kanister, der sich in einem Glasbehälter befindet.

Die Kapsel mit Probenmaterial von Asteroid Bennu

In der Zwischenzeit fliegt die Raumsonde unter dem Namen OSIRIS-APEX weiter zum nächsten Ziel: dem Asteroiden Apophis, der 2029 nah an der Erde vorbeifliegen wird. Auch den Asteroiden Psyche soll bald eine Sonde besuchen, die am 13. Oktober startete. Weil er zu großen Teilen aus Metall besteht, unterscheidet er sich von allen bislang aus der Nähe studierten Brocken. Asteroiden gelten als Vorläufer von Planetenbausteinen – daher erhoffen sich Forschende „Aufschluss über die Frühphase unseres Sonnensystems, über das Entstehen der ersten größeren Himmelskörper und ihrer anfänglichen Entwicklung“, so Ralf Jaumann von der Freien Universität Berlin.

Blicke ins junge Universum mit dem James-Webb-Teleskop

Noch weiter zurück als bis zur Entstehung des Sonnensystems – nämlich bis in die Frühzeit des Universums – lässt sich mithilfe des James-Webb-Weltraumteleskops blicken. Seine Infrarotkameras sind so sensibel, dass sie selbst das schwache Licht extrem weit entfernter Galaxien entdecken, das seit vielen Milliarden Jahren auf dem Weg zu uns ist. Um so weit entfernte Objekte überhaupt sichtbar zu machen, nutzen Forschende den sogenannten Gravitationslinseneffekt. Dabei fungiert eine zweite Galaxie – von der Erde aus gesehen liegt diese vor der untersuchten Galaxie – als Lupe: Ihre Schwerkraft lenkt das Licht ab und vergrößert so das Bild. Bereits letztes Jahr begeisterten die ersten Aufnahmen, die das Weltraumteleskop so von fernen Galaxien machen konnte, Fachwelt und Öffentlichkeit gleichermaßen: Nicht nur boten sie scharfe und eindrucksvolle Bilder – sie stellten auch unser Wissen über die Entwicklung des Kosmos in Frage.

Leuchtende Ringstruktur auf dunklem Hintergrund. In der Mitte des Rings ist bläulich leuchtender Punkt im Vordergrund.

Mithilfe des Gravitationslinseneffekts aufgenommene Galaxie SPT0418-47

Auch dieses Jahr reißt der Strom an Entdeckungen nicht ab: Schon 1,5 Milliarden Jahre nach dem Urknall gab es im Weltraum organische Moleküle, wie sie auch auf der Erde zu finden sind. Dies zeigten im Juni Infrarotspektren einer weit entfernten Galaxie. Kurz darauf fanden Forschende Hinweise auf kohlenstoffhaltigen Staub in einer noch jüngeren Galaxie, nur 800 Millionen Jahre nach dem Urknall. Dass es so früh – der Urknall ist 13,8 Milliarden Jahre her – bereits die ersten Bausteine für erdähnliche Planeten gab, ist durch bisherige Theorien nicht zu erklären.

Neues aus der Teilchenwelt

Auch in der Teilchenphysik stellen neue Erkenntnisse bisherige Modelle zunehmend in Frage. Bereits vor zwei Jahren versetzte besonders eines der Elementarteilchen – das Myon – die Fachwelt in Aufruhr. Myonen besitzen ein magnetisches Moment und verhalten sich daher wie kleine Stabmagnete. Deren Stärke lässt sich mithilfe der relativistischen Quantenmechanik berechnen. Wie sich bei einer experimentellen Messung zeigte, wich das magnetischen Moments des Myons deutlich vom vorhergesagten Wert ab. Seit den ersten Ergebnissen haben Forschende die Stabilität des experimentellen Aufbaus verbessert – „das macht dieses Experiment jetzt zum echten Prüfstein für das Standardmodell“, so René Reimann von der Universität Mainz. Ihre neuen Messungen bestätigen die Diskrepanz des Messwertes zu den Vorhersagungen nicht nur, sondern vergrößerten sie sogar. Daher werden Theoretikerinnen und Theoretiker in den nächsten Jahren intensiv an der Beschreibung des Myons arbeiten.

Eine andere offene Frage zum Standardmodell konnten Forschende im September immerhin klären: Die Auswirkungen von Schwerkraft auf Antimaterie. Die Materie um uns herum ist aus Atomen aufgebaut, die wiederum aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestehen. Dem Standardmodell der Teilchenphysik zufolge existieren für jedes dieser Teilchen entsprechende Antiteilchen, deren Ladung entgegengesetzt ist. Bisher war nicht klar, ob sie der Gravitation unterliegen wie normale Materie – oder ob sie möglicherweise abgestoßen statt angezogen werden. In einem Experiment am CERN stellten Forschende nun aus je einem Antiproton und einem Positron – also Anti-Elektron – künstlich Antiwasserstoff her und zeigten, dass auch dieser der Schwerkraft folgt.

Anzeichen für langwellige Gravitationswellen entdeckt

Wie gewaltig die Auswirkungen der Schwerkraft sein können, zeigten Astronominnen und Astronomen dann im Herbst. Anfang Oktober veröffentlichten sie einen Durchbruch in der Erforschung von Gravitationswellen: Zwar hatten sie deren Existenz schon lange theoretisch vorhergesagt und 2015 experimentell nachgewiesen. Doch bislang war es ihnen nur gelungen, kurzwellige Gravitationswellen zu messen, die von Neutronensternen oder kleinen Schwarzen Löchern verursacht werden. Doch auch viel größere Ereignisse schlagen Wellen in der Raumzeit – etwa, wenn sich im Zentrum von Galaxien zwei supermassive Schwarze Löcher umkreisen. Dabei entstehen Gravitationswellen, deren Wellenlängen mehrere Lichtjahre erreichen können. Auf der Suche nach solchen Riesenwellen hatten Forschende 25 Jahre lang Pulsare beobachtet: Neutronensterne, die starke elektromagnetische Strahlung in exakt getakteten Pulsen von wenigen Millisekunden aussenden. Diese „kosmischen Uhren“ ticken so regelmäßig, dass eine Abweichung im Takt darauf hindeutet, dass das Licht sich anders ausgebreitet hat – etwa, weil eine langwellige Gravitationswelle den Raum zwischen Pulsar und Erde gestreckt oder gestaucht hat. Mithilfe eines speziellen Teleskopverbunds gelang es Forschenden nun, diese kleinen Veränderungen im Ticken zu messen – und so erstmals langwellige Gravitationswellen aufzuspüren.

Nobelpreis für Attosekundenphysik und Quantenpunkte

Verleihung des Nobelpreis an Anne L'Huillier

Ebenfalls im Oktober wurde bekanntgegeben, wer die diesjährigen Nobelpreise erhält. Die Verleihung rückte gleich zwei physikalische Fachgebiete ins Rampenlicht. Anne L’Huillier, Pierre Agostini und Ferenc Krausz wurden für ihre experimentellen Methoden zur Erzeugung von Attosekunden-Lichtblitzen ausgezeichnet – daher nennt man ihr Fachgebiet auch Attosekundenphysik. Eine Attosekunde ist verglichen mit einer Sekunde so kurz wie eine Sekunde im Verhältnis zum Alter des Universums. Mit diesen ultrakurzen Lichtblitzen lassen sich – ähnlich wie mit einer Kamera mit extrem kurzer Belichtungszeit – die Bewegungen von Elektronen in Atomen und Molekülen beobachten. Künftig könnte es damit sogar möglich werden, Reaktionen nicht nur zu beobachten, sondern ebenso schnell zu beeinflussen.

Auch der diesjährige Nobelpreis für Chemie basiert auf Physik: Das Nobelpreiskomitee ehrte Moungi Bawendi, Louis Brus und Alexei Ekimov für die Entdeckung und chemische Synthese von Quantenpunkten. Das sind Zusammenschlüsse aus tausend bis zehntausend Atomen in einem extrem kleinen Bereich eines Halbleiters. Anders als in herkömmlichen Halbleitern können die Elektronen in solch kleinen Strukturen nur ganz bestimmte Energien haben – dadurch verhalten sich Quantenpunkte, als wären sie ein einziges großes Atom. Besonders interessant an diesen „künstlichen Atomen“ ist, dass sie in einer bestimmten Farbe leuchten können, die von den Abmessungen abhängig ist. Daher werden diese beispielsweise in modernen QLED-Fernsehern genutzt. Außerdem werden „Quantenpunkte eine zentrale Rolle für das kommende Quanteninternet spielen“, so Andreas Wieck von der Universität Bochum. Mithilfe eines solchen Netzwerks aus Quantencomputern könnte die Verarbeitung von Quanteninformationen zukünftig auch über große Distanzen möglich sein, was zurzeit noch nicht gelingt.

Künstliche Intelligenz drängt sich in den Alltag

Doch bevor diese Vision Wirklichkeit wird, verändert eine andere Technologie unseren digitalen Alltag bereits heute: Künstliche Intelligenz kann Daten schneller und systematischer auswerten als klassische Programme und ist präsenter denn je. So hoffen Forschende, damit in Zukunft auch Katastrophen zu verhindern – etwa die Auswirkungen von Erdbeben wie dem, das am 6. Februar in Syrien und die Türkei mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete. Liegt der Herd eines Erdbebens unter der Meeresoberfläche, können die ruckartigen Verschiebungen der tektonischen Platten Tsunamis auslösen. Dabei entstehen auch akustische Wellen, die sich mit rund 5500 Kilometern pro Stunde wesentlich schneller ausbreiten als die schnellsten Tsunamiwellen mit etwa 800 Kilometern pro Stunde. Diesen Zeitvorsprung wollen Forschende der Cardiff University nutzen, um die Riesenwellen vorherzusagen und rechtzeitig davor warnen zu können: Mittels Künstlicher Intelligenz konnten sie die Wellenmuster klassifizieren und so das Risiko eines heranrollenden Tsunami abschätzen – auch wenn das Modell noch viele weitere Trainingsdaten benötigt, bevor es sich zuverlässig einsetzen lässt.

Der zunehmende Einsatz von KI-Modellen beschränkt sich nicht nur auf die Erdbebenvorhersage. Künstliche Intelligenz ist längst keine Spezialtechnik für Forschung und Industrie mehr – generative KI-Systeme wie ChatGPT haben die Technologie dieses Jahr immer weiter in den Alltag gebracht. Nutzerinnen und Nutzer können Texte und Bilder auf Knopfdruck generieren, Objekte erkennen und Ereignisse vorhersagen. Damit entstehen auch neue Herausforderungen: Insbesondere in den sozialen Medien wird es immer schwieriger, echte Informationen von Fälschungen zu unterscheiden. Außerdem ist eine künstliche Intelligenz nur so gut, wie die Daten, mit denen sie trainiert wurde – weshalb es zu mangelnder Transparenz und Diskriminierung sowie Urheberrechtsproblemen kommen kann. Wie wir diese Probleme lösen und einen verantwortungsvollen Umgang mit KI lernen, werden die nächsten Jahre zeigen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/jahresrueckblicke/jahresrueckblick-2023/